Montag, 1. Februar 2021
Yamato Nadeshiko -20-
Der Wald weicht nach einigen Minuten zurück und gibt den Blick auf einen wirklich alt aussehenden Ort frei. Die strohgedeckten Dächer der Häuser werden von drei alten Windmühlen überragt, von denen ich die Vordere schon auf dem Weg vom Parkplatz über den Bäumen des Waldes erkannt habe. Die Häuser sind alle mit hölzernem Fachwerk erbaut. Die Gefache strahlen weiß. Die Fenster sind klein und bestehen aus noch kleineren Scheiben aus Klarglas, die in ein Gitter aus Holzleisten eingepasst sind.

Um uns zu orientieren, gehen wir zwischen zwei Häusern hindurch. Der Weg öffnet sich zu einem großen Platz, um den sich die Häuser gruppieren. Der Platz ist bis auf einen großen Laubbaum und einer Reihe Obstbäume, sowie einen gemauerten Brunnenschacht leer. Über dem Brunnenschacht ist eine Rolle angebracht, mit der man wohl Wasser schöpfen kann. Das Ganze wird von einem metallenen Dach gegen Regen geschützt. Beim genaueren Umsehen, entdecke ich auch eine Bank, die zum Verweilen unter dem Baum einlädt.

Ein Schild aus mehreren Brettern, die von einem Metallrahmen zusammengehalten werden, weckt meine Aufmerksamkeit. Ich trete näher heran, gefolgt von Gabi. Auf einer Seite befindet sich eine Wegekarte, in deren Mitte der Ort in das Holz gebrannt ist. Davon ausgehend sind die beiden Nachbarorte markiert, verbunden mit der Bundesstraße, auf der wir eben noch gefahren sind. Die Namen der drei Orte wurden ebenso in das Holz gebrannt. Als ich um das Schild herum gehe, sehe ich auf der Rückseite einen Lageplan des Ortes, in dem wir uns befinden.

Gabi zeigt auf ein Haus und sagt:
„Schau, dort wohnt der Ortsvorsteher!“

Ich nicke und schaue mich um. Die meisten Häuser sind annähernd gleich groß. Anhand der Lage der Windmühlen und zweier hallenartig großer Häuser, habe ich schnell die Lage des Hauses des Ortsvorstehers gefunden.

„Komm, Liebes! Dort müssen wir hin!“ fordere ich sie auf und zeige auf das Haus, das ich meine.
Wir gehen auf den Eingang des Hauses zu. Dort orientiere ich mich kurz und nehme die Kette einer kleinen Glocke von einem Nagel. Ich läute und kurz darauf öffnet sich die Tür.

Im Eingang steht eine junge Frau asiatischen Typs. Das Haar hat sie unter eine weiße Haube gesteckt. Sie trägt ein knöchellanges rotes Kleid mit Raffungen und darüber eine weiße Schürze. Um die Hüfte trägt sie einen Ledergürtel, an dem eine lederne Tasche hängt.
Als sie uns sieht, macht sie einen Knicks und beugt den Kopf leicht vor.

„Guten Tag, die edlen Herrschaften,“ begrüßt sie uns. „Treten Sie bitte ein. Hatten Sie eine gute Reise? Sie müssen sicher hungrig sein?“

Sie führt uns an einen niedrigen Tisch, an dessen einer Schmalseite ein Armlehnstuhl mit vielen Schnitzereien steht, sowie an den Längsseiten abwechselnd je ein Bodenkissen und ein Hocker.

„Bitte, setzen Sie sich,“ sagt sie und weist auf den Tisch, dessen Tischplatte irgendwo zwischen einem Couchtisch und einem Esstisch hoch ist. Es müssen wohl etwa 50 Zentimeter vom Boden sein. „Ich sage eben dem Hausherrn Bescheid und hole etwas von der Kochstelle.“

Ich setze mich auf einen Hocker und weise Gabi den Platz neben mir auf einem Bodenkissen zu. Sie kniet sich darauf. Beide schauen wir uns interessiert in diesem Fachwerkbau um.

Sofort beim Hinsetzen ist mir die Vertiefung in der massiven Tischplatte in der Nähe des Armlehnsessels aufgefallen. Dort liegt eine kleine Schieferplatte auf Moos. Die Asiatin geht zu einer Zimmertür in der Stirnwand, öffnet sie, knickst wieder und sagt etwas, sicher in ihrer Heimatsprache. Danach wendet sie sich um, lächelt uns höflich im Vorbeigehen an und stoppt vor den Schränken und Regalen an der anderen Stirnseite des Hauses. Davor, zwei bis drei Meter von allen Wänden entfernt befindet sich die Kochstelle des Hauses.

Leider kann ich nicht weiter zuschauen, denn nun tritt ein Mann durch die offene Zimmertür und kommt lächelnd auf uns zu. Er trägt lederne Schuhe und darüber eine braune Hose. Die Schnürung der Schuhe geht bis zu den Waden. Darüber hat er ein weißes Hemd mit bauschigen Ärmeln an, das über die Hose fällt. Über dem Hemd trägt er eine braune Weste ohne Ärmel, die vor der Brust weit geschnürt ist.

Ich fühle mich tatsächlich ins Mittelalter versetzt. Der Mann nähert sich uns, nickt lächelnd, hebt die rechte Hand vor die linke Brustseite und schiebt den Armlehnstuhl etwas weiter vom Tisch weg. Danach setzt er sich uns gegenüber auf einen Hocker und sagt:

„Hallo, guten Tag! Darf ich fragen, was Sie in diese einsame Gegend verschlagen hat?“

„Wir haben bisher in der WhatsApp-Gruppe miteinander getextet,“ erkläre ich ihm. „Nach Ihrem Aufruf, um Bewohner für das Dorf zu finden, habe ich gedacht, ich komme mit meiner Freundin einmal unverbindlich vorbei und schaue mir alles an.“

Sein gespannter Gesichtsausdruck hellt sich auf. Lächelnd sagt er:

„Mein Name ist Harold Schmidt. Ich habe dieses Projekt maßgeblich vorangetrieben und nun eine Firma gegründet, die ‚Hagenholt GmbH‘, die die Einnahmen und Ausgaben für den Staat bündelt und entsprechend Steuern abführt. Ein Geschäftspartner meines früheren Arbeitgebers, mit dem ich aufgrund meiner früheren Position in Kontakt gewesen bin, hat mir unter die Arme gegriffen – nicht ohne Hintergedanken.“

Interessiert höre ich seinen Ausführungen zu und antworte:

„Mein Name ist Dietmar Loose. Ich bin, wie gesagt, Mitglied ihrer WhatsApp-Gruppe und neugierig auf das, was mich hier erwartet.“

Die Japanerin in der mittelalterlichen Mägdekleidung bringt nun ein kleines, oben offenes Fass an den Tisch und geht wieder zur Kochstelle zurück. Herr Schmidt erhebt sich, holt vier Teller aus glasiertem Ton aus einem Regal und Besteck an den Tisch. Anschließend holt er noch vier Gläser heran, die wie selbstgeblasen aussehen. In der Zwischenzeit ist seine Magd wieder zurück am Tisch und stellt zwei große Tonkrüge in die Mitte. Zuletzt bringt sie noch ein Tablett mit vier dampfenden Schweine-Rippchen, sowie eine Vorlegegabel und eine Kelle.

„Langen Sie zu!“ meint der Hausherr lächelnd. „Dies ist Fasskraut mit Kartoffelstampf und Rippchen. Dazu gibt es Äppelwoi. Sollten Sie vorsichtig sein wegen des geringen Alkoholgehaltes, dann verdünnen Sie ruhig den Äppelwoi mit Wasser.“

Wir haben vor der Fahrt zwar schon gegessen, aber neugierig bin ich doch. Auch will ich nicht unhöflich erscheinen. Daher nehme ich für Gabi und mich zwei halbe Portionen. Nun fülle ich unsere Gläser zu einem Drittel mit dem Apfelwein und schütte Wasser aus dem zweiten Krug nach.

Währenddessen schaue ich fasziniert über den Tisch. Herrn Schmidts Lebensgefährtin füllt ihm einen Teller und reicht ihn ihm mit einer Verbeugung. Herr Schmidt nimmt ihn lächelnd an und stellt ihn vor ihrem Platz auf den Tisch. In der Zwischenzeit beschäftigt sie sich schon mit dem zweiten Teller, den sie ihm ebenfalls mit einer Verbeugung übergibt. Diesen Teller stellt er nun an seinen Platz. Das gleiche Ritual wiederholt sich bei den Gläsern. Anschließend sagt Herr Schmidt:

„Guten Appetit!“

Er tunkt zwei Finger in sein Glas und lässt ein paar Tropfen auf das Stück Schiefer vor sich fallen. Automatisch wiederhole ich die Geste und wünsche ebenfalls:

„Guten Appetit.“

Nach den ersten Bissen meine ich:
„Das ist aber lecker!“

„Vielen Dank,“ antwortet Herr Schmidt, während seine Lebensgefährtin sich lächelnd in meine Richtung verbeugt.

Wenige Minuten später fragt Herr Schmidt rundheraus:
„Wenn Sie sich entschließen würden, hier mitzumachen, welches Gewerk haben Sie da im Auge, Herr Loose?“

„Mich würde die Taverne interessieren. Ich bin sehr gerne Hobbykoch und bin zuhause derjenige, der das Essen zubereitet.“

„Ah,“ meint Herr Schmidt. „Und welche Verdienstvorstellungen haben Sie?“

„Nun jaaa…“ ziehe ich meine Antwort in die Länge und schaue Herrn Schmidt lächelnd an. „In meinem Beruf verdiene ich bisher so 3.600 Euro.“

„Sie wissen, wir haben in der Chat-Gruppe darüber gesprochen, wie ich mir den Aufbau der Gemeinschaft vorstelle?“ fragt er nach und erklärt noch einmal: „Jeder Herr ist für sein Haus und dessen Mitglieder selbst verantwortlich. Es muss vorzugsweise FÜR die Gemeinschaft gearbeitet werden, also: Die erwirtschafteten Produkte und Dienstleistungen sollen der ‚Hagenholt GmbH‘ zugutekommen. Neben den Abgaben an den deutschen Staat erhält auch die Bunrei no Shima, mein Geschäftspartner in Japan, einen Teil des erwirtschafteten Gewinns. Dann legen wir einen bestimmten Betrag auf ein Bankkonto, aus dem jedes Mitglied unserer GmbH Leistungen im Falle von Krankheit und Rente erhält, die der Staat nicht abdeckt. Den Rest des Gewinns teilen sich die Gesellschafter unserer GmbH zu gleichen Teilen. Ist noch Geld übrig werden Naturschutzprojekte und anderes davon bezahlt. – Was alles im Einzelnen, darüber entscheidet der Rat jedes Ortes. Das wäre hier die Gesellschafterversammlung.“

„Das erscheint mir gerecht. Wie wird mit Streitigkeiten unter den Herren verfahren?“

„Ein Verhaltenskodex wird erstellt und von einem ‚Ständigen Ausschuss‘ des Rates überwacht, an dem der Ortsvorsitzende beteiligt ist und möglicherweise zwei bis vier Beisitzer.“

„Haben Sie neben ihrer Aufgabe als Ortsvorsitzender und Vorsitzender der GmbH noch weitere Aufgaben?“ frage ich.

„Nun, im Moment bin ich auch so etwas wie der Hausmeister im Ort. Ich überprüfe alles in gewissen Abständen auf seine Funktion und rufe Handwerker herbei, die Fehler reparieren sollen. Ich hätte natürlich gerne eigene Handwerker im Ort, die dann ihre Dienstleistung in der Umgebung anbieten, solange hier alles in Ordnung ist.
Daneben wäre meine Magd Lehrerin einer intern noch zu gründenden Mägdeschule, deren Schulleiter ich jetzt noch bin. Bisher hat diese Schule allerdings noch keine Schülerin,“ ergänzt er lächelnd.

„Gehört zum Ort auch Landwirtschaft?“ frage ich nun und lächele über den Begriff ‚Magd‘, mit dem er seine Lebensgefährtin betitelt.

Herr Schmidt schüttelt den Kopf.

„Ich habe vorerst darauf verzichtet, Acker- und Weidewirtschaft, sowie Zucht wie vor etwa 500 bis 700 Jahren einzubinden… Dafür braucht es Männer mit viel Liebe zur Landwirtschaft, die zupacken können und auch nicht die Nase rümpfen. Solche Leute finden Sie heute kaum noch. Heute finden Sie in der Hauptsache Stadtmenschen, die am Computer arbeiten! Wenn ich Leute finde, die Interesse an alten Handwerksberufen haben, wäre ich schon sehr froh!“

Ich nicke. Diese Argumente teile ich auch. Jetzt komme ich auf das Wesentliche:

„Womit generiert die GmbH denn ihre Einnahmen?“

„Im Augenblick hat die GmbH nur Ausgaben. Solche Essen, wie dieses hier, verbuche ich betriebswirtschaftlich unter Werbungskosten. Wenn sich Mittelalterfans als Besucher hierher verirren und Interesse zeigen, versorgen wir sie mit Prospekten. Wir lassen uns die Führungen bezahlen.
Sollten Sie die Taverne übernehmen, könnten wir Besuchern und auch Rastenden ein Essen anbieten, natürlich gegen Bezahlung wie in jeder anderen Gaststätte auch. Finden Sie mehr Mägde für die Bedienung der Gäste, können einige davon den Gästen auch ein Bühnenprogramm bieten. – Die Taverne soll den Varieté-Theatern ähneln, mit Speisen und Getränken. Hier hätten wir weitere Einnahmen. Hinzu kommen noch die Einnahmen, die unsere späteren Handwerker im Umland generieren.“

Ich strecke ihm über den Tisch meine Hand entgegen und sage lächelnd:

„Ich denke, ich bin ihr Mann!“

Er nimmt meine Hand und drückt sie lächelnd.

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