Sonntag, 21. Februar 2021
Yamato Nadeshiko -30-
*

Nach einem Vierteljahr habe ich mich dazu durchgerungen, nach Hagenholt zu ziehen. Ich habe mein Appartement aufgelöst und bin in ein Zimmer in der Taverne des Herrn Loose gezogen. So bin ich nahe bei Ruri-chan, der ich fast nichts mehr beibringen muss, die mir aber viel von der japanischen Kultur und der zugehörigen Philosophie erzählt. Gleichzeitig habe ich mich endlich dazu bereit erklärt, meinen Tanz vor fremden Menschen vorzuführen. Leider ist unter den Zuschauern bisher noch nicht DER Mann dabei gewesen.

Eines Abends, nach Schließung des Freilichtmuseums für Besucher, wir sitzen oder knien um den großen Tisch in der Taverne, als Herr Schmidt mit einem neuen Gesicht an seiner Seite an den Tisch tritt.

?Hallo, guten Appetit,? wünscht er uns und stellt den Mann in seiner Begleitung vor:
?Ich darf euch Herrn Vogt vorstellen. Wolfgang Vogt hat bisher als Elektromeister in einem kleinen Betrieb mitgearbeitet und nun eine Zusatzqualifikation als Installateur erworben. Er hat vor, sich selbständig zu machen und ich habe ihm als Arbeitsfeld das Freilichtmuseum und die umgebenden Ortschaften angeboten.?

?Ah, seien Sie gegrüßt, Herr Vogt,? spricht Herr Loose ihn an. ?Setzen Sie sich ruhig zu uns. Gabi wird Ihnen ein zusätzliches Gedeck reichen!?

Gabi erhebt sich aus dem Kniesitz, der in Japan Seiza heißt, wie mir Ruri-chan erklärt hat. Sie nimmt Teller und Besteck aus einem Sideboard und reicht es ihm mit einer Verbeugung. Man sieht, dass Herr Vogt davon peinlich berührt ist.

Währenddessen spricht Herr Loose zu unserem Gast:

?Wir haben ja nicht soviel Elektrizität in den Häusern wie in den modernen Bauten. Ich glaube, die Taverne hier, hat den größten Anteil am Verbrauch im Ort. Unsere drei Windmühlen zur Stromerzeugung müssen regelmäßig gewartet werden, aber das hat Ihnen Herr Schmidt bestimmt schon erklärt.?

Herr Vogt bedankt sich gerade bei Gabi für das Anreichen des Tellers und Bestecks und wendet sich dann Herrn Loose zu. Er nickt.

?Ja, darüber hat Herr Schmidt schon mit mir geredet.?

Während ich Herrn Vogt im Laufe des Essens aus den Augenwinkeln beobachte, kommt mir der Gedanke, dass der Mann neu in dem Metier zu sein scheint. Eine latent vorhandene Dominanz kann ich ihm nicht absprechen, aber er muss sich noch in die Philosophie dahinter einleben.

Auch der Mann schaut sich während des Essens die Leute in der Tischrunde an. Dabei kreuzen sich unsere Blicke. Er ist mir irgendwie sympathisch, so dass ich ihn anlächele.

Nach dem Essen bietet Herr Schmidt unserem Gast an, ihn im Ort herum zu führen. Eine Werkstatt, wie Herr Vogt sie braucht, ließe sich überall einbauen, meint der Ortsvorsteher unterwegs. So könne sich Herr Vogt gerne sein Haus unter den noch Leerstehenden nach deren Lage aussuchen.

Im Hinausgehen ruft Herr Schmidt mich zu sich:
?Feli!?

Ich laufe zu den beiden Männern und verbeuge mich.

?Hast du bei Herrn Loose im Moment etwas zu tun??

?Ja, Herr!? antworte ich. ?Wie jedesmal nach dem gemeinsamen Essen helfe ich Gabi beim Abwasch.?

Nun wendet sich Herr Schmidt zu Ruri-chan um, die ihrem Herrn gefolgt ist.

?Ruri-chan, du wirst Felis Stelle einnehmen und anschließend nachhause kommen!?

Sie verbeugt sich vor ihm und geht zu Gabi zurück, die gerade das Geschirr zusammenstellt, um es in die Spülküche zu tragen. Zu mir sagt Herr Schmidt:

?Du wirst uns begleiten, Feli!?

Ich verbeuge mich und folge den Männern vor das Haus. Herr Schmidt geht nun mit seinem Gast von Haus zu Haus, rund um den Dorfplatz herum, und zeigt ihm die Bauten von innen und außen. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf die drei Windmühlen und dem technischen Gerät darinnen, von dem ich kaum etwas verstehe.

Nach der Runde fragt er unseren Gast:
?Für welches der Häuser würden Sie sich entscheiden??

?Hm,? brummt dieser. ?Wenn ich draußen auf dem Parkplatz einen Kleinlieferwagen stehen habe, um Werkzeug zu auswärtigen Kunden zu transportieren, würde mir ein Haus direkt am Zufahrtsweg gefallen. Als ?Windmüller? wäre gleichzeitig ein Haus direkt neben einer der Windmühlen interessant.?

Beim Wort ?Windmüller? zeigt er ein breites schelmisches Grinsen. Nun weist er auf die Windmühle, die dem Weg vom Parkplatz zum Ort am nächsten steht. Herr Schmidt nickt und meint:

?Das ist in Ordnung! Ziehen Sie gerne in das Haus daneben ein. Ich werde dort hinten an der Übersichtstafel ihren Namen neben das von Ihnen gewählte Haus schreiben.?

Er zeigt auf die hölzerne Tafel neben der Bank unter dem einzelnen Baum.

?Kann ich heute sonst noch etwas für Sie tun??

Herr Vogt schüttelt lächelnd den Kopf.

?Nein, danke. Ich bin erst einmal versorgt.?

Nun neigt Herr Schmidt kurz seinen Kopf ein wenig und meint:

?Dann wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise! Und informieren Sie mich, wann Sie hier einziehen wollen!?

Herr Vogt reicht ihm zum Abschied die Hand, die Herr Schmidt höflicherweise nicht ausschlägt.

?Auf Wiedersehen!?

Anschließend schickt mich der Ortsvorsteher in die Taverne zurück.

*

Nachdem ich, Wolfgang Vogt, mit meinem Arbeitgeber gesprochen und ihm berichtet habe, dass ich im Begriff stehe einen eigenen Betrieb zu eröffnen, sagt dieser:

?Schade, dass Sie uns verlassen wollen. Aber so ist das nun einmal im Leben? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Herr Vogt??

Er bedauert meinen Weggang. Dem braucht man keine Bedeutung beimessen. Das sind zumeist leere Worte, Höflichkeitsfloskeln. Aber das Angebot der Hilfe nehme ich gerne an.

?Ja,? meine ich. ?Ich starte in einem noch unbeackerten Gebiet. Da wäre es nett, wenn ich meinen Hausstand mit dem Bulli dorthin transportieren könnte!?

?Das ist kein Problem!? antwortet mein Chef. ?Wenn der Bulli einmal nicht gebraucht wird, nehmen Sie ihn sich. Bis zum Monatsende bleiben Sie uns doch sicher noch erhalten??

?Aber natürlich, Chef!? bestätige ich seine Frage.

Ich habe ja nun nicht allzu viel zu transportieren. Wie ich bei dem Rundgang sehen konnte, sind die Häuser teilmöbliert. Meine Möbel dazwischen zu platzieren, besonders die Polstermöbel, erscheint mir wie ein Anachronismus. Also packe ich nur die Textilien, Heimtextilien, Geschirr und Erinnerungsstücke in Kartons, nachdem ich die Wohnung gekündigt habe.
Meine Musikbox aus den 60er Jahren muss allerdings mit. Ich habe mir dafür extra ein paar alte Münzen nach der Währungsumstellung zurückbehalten.

Dann ist es soweit. Ich fahre zu meinem neuen Wirkungsfeld und nähere mich mit dem Bulli rückwärtsfahrend über den Waldweg der Siedlung Hagenholt. Dort halte ich und öffne die Hecktüren. Einen Karton ziehe ich heraus und trage ihn zu meinem ausgewählten Haus, um ihn dort abzusetzen und die Tür zu öffnen. Leider klappt das nicht.

Nun lasse ich Karton und Bulli, wo sie sind und läute beim Ortsvorsteher. Seine Magd händigt mir den Schlüssel aus und schon kann ich beginnen, meine Sachen in mein neues Haus zu tragen. Irgendwann kommt Herr Schmidt hinzu. Er sagt, dass sie das Haus abgeschlossen haben, damit kein Besucher des Freilichtmuseums sich hinein verirrt. Er bewundert die Musikbox und hilft mir, sie ins Haus zu tragen und an ihrem neuen Platz aufzustellen. Dorthin werde ich in den nächsten Tagen noch eine Leitung verlegen.

Zum Ende der Aktion bietet er mir noch an, dass ich bei Herrn Loose an der großen Tafel mitessen darf. Das nehme ich gerne an. Zuerst schließe ich noch die Hecktüren des Bulli und fahre ihn auf den Parkplatz, damit der Waldweg nicht länger blockiert ist.

Irgendwie habe ich mich in Feli verguckt. Auch sie scheint angenehm berührt zu sein. Sie verbeugt sich an der Tür der Taverne grüßend und lässt mich ein. Während des folgenden Essens erzähle ich den Leuten, dass ich ab heute auch hier wohne. Feli lächelt.

Nach dem Essen fragt sie, ob sie mich begleiten darf. Herr Loose meint dazu, dass zuerst die Arbeit erledigt werden müsse. Ich schalte mich ein und biete an zu warten, wenn ich einen Tee in der Zeit trinken dürfe. Darauf lässt sich Herr Loose ein.

Eine halbe Stunde danach kommt Feli lächelnd auf mich zu und meint:

?Ich habe jetzt frei.?

Also stehe ich auf und gehe zur Tür, öffne sie und lasse Feli hinausgehen. Sie lächelt dankbar. Draußen frage ich sie:

?Wo kann man hier hingehen, um sich unter vier Augen zu unterhalten??

?Das ist überall möglich, Herr.?

?Gut,? meine ich. ?Die Häuser kenne ich nun. Auf der Bank dort hinten können wir nachher gerne ausruhen? Was ist hier im Ort sonst noch möglich??

?Wir könnten den Rundweg durch das Wäldchen nehmen?? schlägt Feli vor.

?Okay,? antworte ich und überlasse mich Felis Führung.

Nachdem wir zwischen den Bäumen sind, beginne ich:

?Weißt du, Feli. Den mittelalterlichen Lebenstil mit dem Machtgefälle kenne ich bisher von den Mittelaltermärkten. Er hat mich schon immer fasziniert, erschien mir aber Lichtjahre weit weg. Dass er hier in einem lebenden Freilichtmuseum nicht bloß gespielt, sondern richtig gelebt wird, wusste ich bislang nicht.
Ich bin nun geschieden, weil ich mit meiner Frau keine Gesprächsbasis mehr gefunden habe. Ohne miteinander zu reden, entfremdet man sich mit der Zeit immer mehr??

Ich mache eine Gedankenpause, aber Feli wirft nichts dazwischen. Also erzähle ich weiter von mir:

?Ich bin in einer Familie mit traditionellen Werten aufgewachsen. Mein Vater war eine übermächtige, alles bestimmende Figur. Dadurch wurde ich schüchtern. Gleichzeitig kam ich aber mit Mädchen nicht klar, die meinten, sagen zu müssen, wo es lang geht. So hat es Jahre gedauert bis ich eine junge Frau getroffen habe, die sich von mir führen ließ. Zwei Jahre hat es gedauert, bis wir geheiratet haben.
Die folgenden zehn Jahre waren die Erfüllendsten meines bisherigen Lebens. Dann ist sie aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen, ohne dass es einen Streit gegeben hat. Mir fehlte nun die menschliche Nähe, das aneinander kuscheln. Also fragte ich sie nach dem Grund ihres Handelns und ob es nicht wieder so sein könne wie früher. Sie antwortete mir mit Dorfklatsch, statt meine Frage konkret zu beantworten.
Ich hatte sie aber geheiratet und damit versprochen, für sie zu sorgen. Ich fühlte mich für sie verantwortlich. Mir blieb nun nichts weiter, als sie immer wieder zu fragen, in der Hoffnung irgendwann eine Antwort zu bekommen, um danach unser Zusammenleben neu zu organisieren. So fragte ich sie alle drei Monate. Doch ich bekam immer nur zu hören ?Der und der ist krank, dieser und jener hat das und das getan??
Aus der Hausarbeit hat sich mit der Zeit ebenfalls verabschiedet. Die musste ich nun neben meinem Job auch noch übernehmen. Dann kam sie nur noch vom Sofa hoch, wenn ich das Essen bereit hatte. Ich wusste mir irgendwann nicht mehr anders zu helfen, als ihr zu drohen, dass es mit mir keine Jubiläumsfeier unserer Hochzeit geben würde.
Aber das brachte sie auch nicht zum Umdenken. Also habe ich irgendwann meine Sachen gepackt und bin in ein Appartement gezogen. Anderthalb Jahre später kam das Schreiben einer Rechtsanwältin, das ich nur unterschrieben zurückschicken brauchte ? dann wären wir geschieden. Nach einem Seufzer habe ich das dann auch gemacht. Sie hatte sich in der Zeit dazwischen nicht bei mir gemeldet, um mit mir über unsere Beziehung zu reden??

?Hm,? brummt Feli.

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