Dienstag, 9. Februar 2021
Yamato Nadeshiko -24-
„Jetzt spreche ich die Höflichkeit an. Dieser Begriff bezeichnet das Verhalten bei jeder Begegnung mit einem Mitmenschen und bedeutet gesitteter Umgang untereinander. Besondere Ehrerbietung genießen Ältere und freie Frauen. Der Herr ist eher zurückhaltend. Das Gegenstück ist die Rüpelhaftigkeit. Das bedeutet unkontrolliertes Benehmen, Fresssucht, Ausschweifungen aller Art.
Als nächste Tugend folgt die Milde. Damit sind Großzügigkeit, Barmherzigkeit und Nächstenliebe gemeint. Ein Herr gibt freigiebig an in Not Geratene, was er geben kann. Die vielleicht schwierigste Gratwanderung hier liegt darin, dass er sich erstens nicht mit dem Armen gemein macht, sondern edle Distanz wahrt und zugleich zweitens nicht herablassend oder herrisch auftritt. Freundlicher Gleichmut, die in der Ausübung der Mildtätigkeit das eigene Selbstverständnis verwirklicht, ist der Grundton seiner barmherzigen Handlungen. Dagegen steht Geiz oder Egoismus. Er bezeichnet den Hang zum Raffen und Horten, um ganz alleine über den zusammen getragenen Reichtum zu verfügen. In der Folge lässt Geiz den Charakter allein dastehen! Der Herr erfährt selbst keine Unterstützung mehr.
Dann kommt die Treue. Sie beschreibt Loyalität und auch das Einhalten von Versprechungen und Hilfsverpflichtungen gegenseitiger Art oder gegenüber der übergeordneten Instanz. Der Herr ist sich in erster Linie selbst treu, steht treu zu seinen Überzeugungen, um so auch treu anderen gegenüber zu sein. Die Umkehrung ist die Untreue. Sie ist ein mieses Übel, denn dazu zählen auch Eifersucht, Missgunst und Neid, die allesamt das menschliche Zusammenleben gefährden. Man sollte sich stets aufeinander ‚blind’ verlassen können.“

Osawa-San holt einmal kurz Atem und schaut mich an.

„Keine Sorge,“ meint er lächelnd. „Sie bekommen den Vortrag als Datei, die sie auf ihrem Handy abspielen können! Sie sollten sie sich jeden Abend vor dem Schlafengehen anhören, immer wieder!“

„Nun kommt die Arbeitssamkeit,“ redet er weiter. „Sie beinhaltet die ständige Bereitschaft zu lebenslangem Lernen, zur Weiterbildung und Verbesserung der Qualifikationen. Dagegen steht die Trägheit, Faulheit, Unfähigkeit - fehlende Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung und tätiger Mitarbeit.
Dann komme ich zum Guten Mut. Er beschreibt das Selbstbewusstsein, den Stolz auf seine persönliche Tüchtigkeit, die Liebe zum Leben. Dagegen wirkt die Trauer oder Depression, ein Zustand des Klagens, sowie das Zeigen schlechter Befindlichkeiten, aber auch der Zustand der verletzten Ehre. Die Trauer um einen verstorbenen Menschen ist damit nicht gemeint!
Jetzt folgt die Mannhaftigkeit. Sie beschreibt Tüchtigkeit und Kühnheit, wenn es sein muss unter Einsatz des eigenen Lebens. Der Herr hat natürlich Respekt vor Gefahren und verachtet die Angst. Ihr entgegen steht die Zaghaftigkeit, Feigheit im Leben und vor dem Leben, aber auch Angst vor materiellem Verlust, Angst vor Verletzung, Angst generell.
Ihr folgt die Schönheit. Gemeint ist damit ausschließlich die innere Schönheit des Herzens. Sie wird durch ein ehrliches Lächeln zum Ausdruck gebracht. Ein Herr ist authentisch. Er handelt, wie er redet und denkt. Die Umkehrung ist die Hässlichkeit. Sie bedeutet analog eine meist anfangs unsichtbare Verunstaltung als Zeichen von Lasterhaftigkeit, daraus resultierender unfairer Handlungsweise, sowie Ausdruck von Falschheit durch Missachtung der Menschlichkeit.“

Wieder macht er eine Pause, bevor er weiterredet.

„Dann komme ich zum Verstand. Er bezieht sich auch auf die Kontrolle von Emotionen, was nicht immer leichtfällt. Dagegen wirkt die Torheit, Dummheit. Sie ist der Feind aller anderen Tugenden. Sie bedeutet Verlust der Selbstkontrolle, aber auch mangelnde Reife.
Nun folgt der Reichtum. Gemeint ist innerer Reichtum und Wohlstand. Er ist die Grundlage für gesellschaftliches Ansehen. Er wird durch die Einhaltung der vorgenannten Tugenden erreicht.“

Puh, das ist eine Menge, was einen echten Herrn ausmacht. Aber genauso ritterlich und in sich ruhend in ihrer Dominanz möchte ich werden!

Daneben erzählt er mir etwas über die Kami, die für die Japaner in jedem Lebewesen, jeder Pflanze und jedem Stein wohnen. Ja, selbst in Naturphänomenen, wie Vulkanausbrüchen, Stürmen und Tsunamies wohnt etwas Göttliches inne. Zum besseren Verständnis habe ich die Kami in ‚Seelen‘ übersetzt. Demnach ist für die Japaner alles beseelt. Daraus folgt ihr großer Respekt vor der Natur. Dazu hat er folgende Unterweisung für mich ‚auf Lager‘:

„Leute, die diese Tugenden leben, achten und schützen die Natur. Sie begreifen sich nicht als Herren über die Natur, sondern als deren Teil. Zufällig hat die Evolution die Menschen an das Ende der Nahrungskette gestellt und ihnen damit die Verantwortung in die Hand gegeben, die Natur für die nachfolgenden Generationen zu erhalten. Nun sind aber nicht alle Menschen gleich. Es gibt unterschiedliche Geschlechter. Die Frau bedarf des Schutzes durch den Mann, weil sie die Hauptlast bei der Fortpflanzung trägt und auch geringere Körperkräfte, sowie einen zierlicheren Körper hat. Da der Mann die Verantwortung zum Schutz der Natur hat und auch die Frau zur Natur gehört, trägt er auch die Verantwortung für die Frau – wenn er sich als würdig erweist, Verantwortung zu tragen -. Das lässt sich der Mann natürlich von der Frau durch Unterwerfung bezahlen.
Parallelen dazu finden Sie in der gesamten Natur! – Ausnahmen bestätigen die Regel.“

„Der Mann wie ein brüllender Löwe, wie ein röhrender Hirsch, wie ein Robbenpascha am Strand…“ resümiere ich.

„Und und und… Die Reihe der Beispiele könnten Sie fortsetzen und Sie wären noch lange nicht fertig!“ ergänzt er meine Satz. „In der japanischen Gesellschaft gibt es den Begriff der ‚Yamato Nadeshiko‘ -japanische Prachtnelke-. Das bezeichnet das japanische Frauenideal. Es kann als eine Mischung aus Hausfrau, Geisha und Samurai charakterisiert werden.
Eine Yamato Nadeshiko ist stets hübsch, anmutig, dezent gekleidet und fein geschminkt. Sie ist nach außen willensstark und kann sich im Auftrag ihres Vaters, Chefs oder Ehemannes durchsetzen. Sie ist aber nicht selbständig, unabhängig, wie die Frau im Westen, sondern findet unter einem verantwortungsbewussten bestimmenden Mann, ihrem Shi -Herrn- ihre Erfüllung. Ihm ordnet sie sich bedingungslos unter und gibt sich ihm hin.“

*

Nachdem die Wochen in der Waffenschule vorbei sind, führt mich Osawa-San zu dem Zimmer zurück, in dem ich mit Gabi unsere erste Nacht auf der Insel verbracht habe. Früh am nächsten Tag will Tanaka-San uns nach Maizuru zurückbringen. Von dort fahren wir mit dem Zug nach Kyoto, um dann später in den Flieger nach Frankfurt umzusteigen.

Als ich unser Zimmer betrete, ist Gabi schon da. Bei meinem Eintreten geht sie sofort in den Seiza und beugt sich mit geradem Rücken nach vorne bis ihre Stirn beinahe den Boden berührt. Das bringt mich dazu, sie lächelnd zu fragen:

„Was bis du?“

Sie dreht den Kopf ein wenig, um mich anzuschauen. Mich trifft ein scheuer Blick.

„Du darfst sprechen,“ sage ich deshalb mit sanfter Stimme.

Sie richtet sich wieder in den Seiza auf und antwortet:

„Ich bin eine Magd.“

„Wessen Magd?“ frage ich weiter.

Der Ablauf der Fragen ist beinahe ritualisiert, habe ich gelernt.

„Deine Magd, mein Herr,“ sagt sie mit fester Stimme.

Ich setze mich auf die Couch und befehle ihr:
„Komm näher, Gabi!“

Sie erhebt sich und nähert sich mir, nur um zu meinen Füßen wieder in den Seiza zu gehen.

„Hast du eine Ausbildung genossen?“ frage ich jetzt.

„Nur zu einem gewissen Teil!“ antwortet sie mir.

Ich verstehe sie, denn unser beider Ausbildung ist sicher nie zu Ende. Da ich neugierig darauf bin, was sie in den vergangenen Wochen gelernt hat, sage ich:

„Ich gehe davon aus, dass du dich präsentieren kannst.“

„Ja, Herr.“

Da ist schon wieder dieses ‚Herr‘. Seit wir uns wiedergesehen haben, hat sie mich noch nicht wieder bei meinem Vornamen genannt. Das werte ich schon einmal als gutes Zeichen. Also bekommt sie nun von mir den Befehl:

„Bewegung!“

Sie springt auf und beginnt die gelernten Bewegungsfolgen abzuspulen.

„Großartig,“ meine ich nach einer Weile.

Dieses Lob freut sie und stachelt sie weiter an.

Zum Abschluss ihrer Darbietung frage ich leise:
„Du hast gelernt zu gehorchen?“

„Ja, Herr.“

„Sofort und ohne Widerrede?“

„Ja, Herr.“

„Du wirst also versuchen, eine gute Magd zu sein, nicht wahr?“

„Ja, Herr, ganz bestimmt! Ich will dir gefallen! Bei dir habe ich nicht das Gefühl ausgenutzt zu werden. Du gibst etwas zurück. In deiner Gegenwart werde ich gefügig, unterwürfig und folgsam – und ich fühle mich wohl dabei!“

*

Wir haben uns an einem Lageplan orientiert, den wir auf dem Sideboard gefunden haben und sind zu einer Baraetishiata -Varietétheater- mit Beköstigung, gegangen, um unser Abendessen einzunehmen und gleichzeitig der Vorstellung zuzusehen, die dort während des Essens geboten wird.

Da mein Herr in Hagenholt die Taverne übernehmen will, möchte er schauen, wie so etwas im japanischen Kulturraum ausschaut. So ähnlich, natürlich nicht Eins zu Eins übernommen, soll das Programm in unserer Taverne später aussehen. Danach gehen wir zurück zu unserem Zimmer und legen uns früh schlafen. Mein Herr hat errechnet, dass wir hier, spätestens neun Stunden vor dem Abflug in Kyoto, starten müssen.

Am nächsten Morgen, noch im Dunkeln, stehen wir auf und ziehen die Kleidung an, in der wir hierher gekommen sind. Unser Koffer ist schnell gepackt und kurz darauf sitzen wir im Restaurant beim Frühstück. Tanaka-San und der Pilot des Quadrokopters gesellen sich zu uns und frühstücken ebenfalls eine Kleinigkeit. Anschließend führen sie uns zu einem Aufzug, mit dem wir eine Menge Etagen abwärtsfahren. Auf den fragenden Blick meines Herrn umspielt ein geheimnisvolles Lächeln Tanaka-Sans Mundwinkel.

Als der Aufzug bremst und schließlich stoppt, die Tür aufgeht, stehen wir in einem Hangar. So nennt man wohl die Garagen für Schiffe und Flugzeuge… Uns gegenüber befindet sich ein geschlossenes Rolltor über die gesamte Länge des Fahrzeuges. Vor dem Fahrzeug sehe ich noch ein Tor, so breit wie das Fahrzeug selbst. Tanaka-San und der Pilot gehen auf das Fahrzeug zu und öffnen die Glashaube.

Wir sind unseren Gastgebern gefolgt und warten bis das Fahrzeug zum Zusteigen bereit ist. Nachdem Tanaka-San und der Pilot auf den Vordersitzen Platz genommen haben, schiebt mich mein Herr auf einen Platz im Fond und setzt sich neben mich, nachdem er unseren Koffer hinter die Sitze geschoben hat. Der Innenraum hat eine große Ähnlichkeit mit dem des Quadrokopters, nur dass außen die Mantelschrauben fehlen. So heißen die Rotore, die sich in einem Ring drehen, hat mein Herr mir bei der Ankunft erklärt.

Der Pilot meldet sich irgendwo an, während wir noch mit dem Aufsetzen der Helme beschäftigt sind. Plötzlich wird der schnittige Bootskörper leicht angehoben. Ich kann erkennen, dass wir draußen von Wasser umspült werden. Dann wird das Tor vor uns hochgefahren und der Pilot lässt das Fahrzeug sachte aus dem Hangar hinausgleiten.

„Schnallen Sie sich an, kudasai -bitte-!“ sagt Tanaka-San über den Kommunikationshelm. Wir kommen seiner Bitte nach.

Draußen kommt noch ein überdachter Bereich. Als wir diesen hinter uns gelassen haben, beschleunigt der Pilot als säßen wir in einem Speedboot. Hinter uns spritzt das Wasser meterhoch. Ich bin noch ganz in den Betrachtungen gefangen, als das Boot vorne hochsteigt. Mein Herz scheint stehen zu bleiben. Hat sich der Pilot überschätzt oder hat das Boot einen Fehler? Ist unsere Fahrt schon hier zu Ende?

Aber das Fahrzeug bleibt in der steilen Lage und steigt weiter in den Himmel! Während des Aufstieges bin ich in den Sitz gedrückt worden. Nach wenigen Minuten kippt das Fluggerät in die Waagerechte zurück.

„Womit fliegen wir jetzt?“ fragt mein Herr.

„Wir fliegen mit einem Meisai -Tarn-. So nennen wir das Fluggerät, dass noch einige andere Überraschungen bereithält, als wäre es für James Bond entwickelt worden. Sie werden es erleben,“ meint Tanaka-San schmunzelnd.

Sicher ist noch keine halbe Stunde vergangen, als sich das Fluggeräusch ändert. An der Horizontlinie kann ich erkennen, dass der Pilot den Meisai -Tarn- sinken lässt. Weit voraus sind Berge zu erkennen. Wir kommen der Wasseroberfläche immer näher. Unten angekommen zieht er die Schnauze hoch, so dass er mit dem Heck zuerst auf der Wasseroberfläche aufkommt. Hinter uns steigt wieder Gischt auf, wie vorhin beim Start.

Je langsamer wir werden, desto waagrechter wird die Lage des Tarn. Schließlich fahren wir als Speedboot auf Industriegebäude zu, die über einer hohen Mauer sichtbar werden. Bald erkenne ich ein Loch in der Mauer, auf die das ‚Fahrzeug‘ nun zuhält. Inzwischen haben wir die gemächliche Geschwindigkeit eines normalen Motorbootes erreicht.

Die Mauer öffnet sich zu einem kurzen Kanal, der in ein größeres Hafenbecken mündet. Dort nimmt der Pilot Kurs auf einen Ponton. Daneben angekommen, öffnet Tanaka-San das Cockpit und gibt meinem Herrn ein Seil in die Hand. Ein weiteres Seil hängt er sich schräg über eine Schulter und hangelt sich nach draußen.

Dort schraubt er vorne und hinten je einen Zylinder in den Rumpf, nachdem er dort jeweils einen Deckel beiseite geschoben hat. Nun wirft er sein Seil auf einen großen Zylinder auf dem Ponton. Er trifft und macht sein Seil am kleinen Zylinder an Bord fest. Dann fragt er lächelnd meinen Herrn:

„Trauen Sie sich den Wurf zu, Loose-San?“

„Wenn ich üben dürfte?“ antwortet mein Herr augenzwinkernd.

Tanaka-San wirft nun selbst und macht das Fahrzeug auch hinten am Ponton fest. Der Pilot stellt eine Klappleiter an die Wand des Pontons und sagt zu mir:

„Hoch!“

Ich schaue auf meinen Herrn und sehe ihn nicken.

„Ich helfe dir!“ beruhigt er mich.

Also steige ich die Leiter hoch und betrete mit seiner Unterstützung die Oberseite des Pontons. Danach klettert mein Herr auf die Leiter und lässt sich von unserem Piloten den Koffer anreichen. Mit Hilfe von Tanaka-San hievt er den Koffer auf den Ponton und klettert hinterher.

Während nun der Pilot die Leiter wieder verstaut, fragt Tanaka-San:

„Würden Sie die Taue lösen, Loose-San?“

Mein Herr hebt nun die Taue nacheinander von den dicken Zylindern auf der Oberseite des Pontons ab. Tanaka-San hat die kleinen Zylinder losgeschraubt und verstaut. Während der Pilot das ‚Fahrzeug‘ langsam vom Ponton wegbewegt, steht Tanaka-San noch im offenen Cockpit und ruft:

„Mata neeeeee -Auf Wiedersehen-! Viel Glück für die weitere Heimreise!“

Als der Meisai -Tarn- in den Kanal zum Pazifik hineinfährt, setzt sich Tanaka-San und schließt das Cockpit. Wir wenden uns zu der Brücke, die den Ponton mit dem Land verbindet und gehen nachdenklich hinauf. Hier haben wir Freunde gewonnen.

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