Sonntag, 7. Februar 2021
Yamato Nadeshiko -23-
Höchstens zwei Stunden jeden Tages zeigt sie uns Selbstverteidigungstechniken des Ju-Jutsu. Sie erklärt, dass die Meido -Magd- neben Hausfrau, auch Geisha und Samurai für den Herrn ist.

Am Morgen des letzten Tages kommt der Schulleiter wieder zu uns. Er sagt zu mir:

„Mitkommen!“

Ich erhebe mich und folge ihm in den Raum, in dem Dietmar und Tanaka-San mich bei ihm abgegeben haben. Meine Knie werden weich. Ich sinke in die Knie und setze mich in den Seiza, in dem ich leicht schwankend verharre.

„Den Kopf zu Boden!“ weist er mich jetzt an.

Sofort komme ich seinem Befehl nach. Es ist hier unvorstellbar, dass eine Magd dem Befehl eines Mannes nicht augenblicklich Folge leistet.

Ich habe in die Ausbildung einer Meido nur hineinriechen können in den vergangenen Wochen. Deshalb hat Hoshiko so viele Fächer angeschnitten. Meine beiden Mitschülerinnen werden nach meinem Weggang alles noch weiter vertiefen.

Meine Funktion ist in etwa die, einer Escort oder einer Geisha, einer Gesellschafterin. Damit habe ich eine Bestimmung erhalten. Vielleicht hat keine Frau sonst auf der Erde eine wirkliche Bestimmung, hat uns Hoshiko gelehrt. Rollen und Masken ersetzen das wahre Ich. Sie überlagern wie die Häute einer Zwiebel das, was man im tiefsten Inneren seiner Seele ist, hat sie in der Ausbildung gesagt.

Die Gesellschaft redet uns natürlich ein, wir seien real, doch was wir sehen, wenn wir in den Spiegel schauen, ist nur ein Bild. Das Bild, das die Umwelt von uns hat, oder das Bild, das wir der Umwelt von uns vermitteln wollen. Wenn jemand stattdessen seinen Charakter, sein inneres Selbst im Spiegel sehen würde, manch einer würde zutiefst erschrecken!

Nicht jeder will hinter Masken verschwinden oder sich verstecken. Wir alle scheinen ein Leben lang auf etwas zu warten, scheinen uns beständig auf einem Weg zu einem imaginären Ziel zu befinden. Die Realität scheint uns gleich hinter der nächsten Biegung unseres Lebensweges zu begegnen. Unsere Eltern und Lehrer haben uns in jungen Jahren beständig auf ‚morgen‘ vertröstet, was das Dasein und die Wahrheit hinter den Dingen betrifft.

So haben wir die endlose Spirale unseres Lebensweges betreten. Wann aber ist das Ende der Fahnenstange erreicht? Kann es sein, dass selbst die Älteren darauf keine Antwort wissen, selbst endlos auf dem Weg sind? Haben sie sich geschämt, es zuzugeben? Der schöne Schein kann Menschen verschlingen. Wie viele merken überhaupt nicht, dass sie so in ihrer Rolle aufgegangen sind, dass nichts mehr von ihrem echten Selbst übrig ist.

Nun bin ich endlich etwas, etwas Echtes, etwas hoch Emotionales. Endlich spüre ich, dass ich lebe, mit jeder Faser meines Körpers, mit jeder gefühlten Emotion. Ich bin frei, das zu sein, was ich fühle, das ich bin. Es gibt eine Wirklichkeit zum Anfassen wie Gras oder Baumrinde. Ich bin nicht mehr losgelöst von meinem Selbst!

„Aufstehen!“ befiehlt der Mann nun. „Dreh dich!“

Schnell, aber anmutig, erhebe ich mich und drehe mich um die eigene Achse. Dabei lege ich meine Hände in den Nacken.

„Beuge deinen Rücken!“ sagt der Mann jetzt.

Das heißt nicht, dass ich mich vorbeugen soll! Ich setze den linken Fuß leicht vor und beuge den Oberkörper nach hinten, die Hände weiterhin im Nacken.

„Präsentiere dich!“ befiehlt er nun.

Ich trete näher an den Mann heran. Wenige Zentimeter vor der Reichweite seiner Arme weiche ich wieder zurück. Dieses Spiel wiederhole ich mehrfach. Manchmal scheinbar unwillig, oder als ob ich schüchtern wäre. Dann wieder auf aufreizende, scheinbar freche Weise, aber immer nur ein wenig und betont spielerisch. Denn es darf nicht zu echt wirken, sonst wird es falsch verstanden und man riskiert eine Bestrafung. Es ist vielmehr eine symbolische Herausforderung, die eindeutig als solche zu erkennen sein muss.

Schließlich bewege ich mich vor ihm sinnlich lasziv, wie eine Einladung, die dargebotene Sinnlichkeit zu genießen. Ich knie mich in der Vorwärtsbewegung vor ihn und hebe bittend die Hände, dann weiche ich wieder zurück und drehe mich mit ausgebreiteten Armen. Es gibt unendlich viele Bewegungen, und sie müssen wie in einem Tanz fließend ineinander übergehen. Zum Ende der Vorführung blicke ich zu dem Mann hin. Das Schimmern von Schweiß bedeckt meinen Körper und ich atme schwer.

Ich fühle seine Augen auf mir ruhen. Mein Haar umspielt mein Gesicht. Meine Brust hebt und senkt sich. Ich versuche immer noch zu Atem zu kommen.

„Folge mir!“ sagt er nun.

Er geht voraus und öffnet mir die Türen. Es geht durch die Gänge bis wir vor einer Tür stehen. Er läutet, aber niemand kommt und öffnet uns. Nach einer Weile hält er eine Plastikkarte an das Schloss. Nun springt die Tür auf.

Er sagt: „Hinein mit dir und warte geduldig!“

Ich gehe an ihm vorbei und er schließt die Tür, bleibt selbst aber draußen. Ich schaue mich um und erkenne das Zimmer, in dem wir unsere erste Nacht hier verbracht haben. Dietmar wird sicher bald ebenso eintreffen. Ich schaue, womit ich mir die Zeit vertreiben kann und beginne aufzuräumen.

Es mag eine Stunde vergangen sein, als sich die Tür ein zweites Mal öffnet. Dietmar steht dort in Begleitung eines älteren ergrauten Japaners. Sie verabschieden sich voneinander und Dietmar betritt das Zimmer. Sofort gehe ich in den Seiza und beuge mich mit geradem Rücken nach vorne bis meine Stirn beinahe den Boden berührt.

„Was bist du?“ höre ich ihn fragen.

Ich drehe den Kopf etwas und schaue unsicher zu ihm auf.

„Du darfst sprechen,“ sagt er nun mit mitfühlender Stimme.

„Ich bin eine Meido -Magd-,“ antworte ich ihm, nachdem ich meinen Oberkörper wieder aufgerichtet habe.

„Wessen Magd?“ fragt er weiter.

„Deine Magd, Okyaku-Sama -mein Herr-,“ sage ich.

*

Osawa-San, dem Leiter der Waffenschule hier, ist es wichtig, dass ich neben dem Umgang mit dem von mir gewählten Kompositbogen und den Grundzügen des Ju-Jutsu auch etwas über die dahinter stehende Ethik lerne. Japan hat eine Jahrtausende alte Tradition in der Achtung der natürlichen Ordnung der Lebewesen. Sie ist Grundlage der dortigen Gesellschaftsordnung, des Shinto-Glaubens und des Ehrenkodex der Samurai.

An den Abenden erhalte ich deshalb Unterweisungen darin.

„Der Ehrenkodex für Herren ist sehr komplex. Er lässt sich zwar auf eine kleine Menge Merksätze zusammenfassen, diese müssen aber verinnerlicht und die Wechselwirkungen erkannt werden. Dies erreicht man nicht durch auswendig lernen! Man muss sie leben, rund um die Uhr!“ ist er überzeugt.

„Da wäre die Beständigkeit,“ beginnt Osawa-San. „Die Beständigkeit beeinflusst alle anderen Tugenden und bedeutet Berechenbarkeit in den Handlungen und das Festhalten am rechten Verhalten, aber auch Vertragstreue. Ein Herr steht zu dem, was er denkt und sagt. Man kann sich immer auf ihn verlassen. In unverschuldeten Fällen sorgt er unverzüglich für die bestmögliche Alternative.
Ihr entgegen steht die Unbeständigkeit! Es ist ein Verhalten, bei dem man ‚seinen Wimpel nach dem Wind dreht‘, mit den Gedanken nur an sich und dem Handeln nur für sich. Zusagen werden nicht eingehalten, Verträge gebrochen und es wird gelogen, um persönliche Bereicherung zu erlangen und das Ego zu befriedigen.“

Nach einer kurzen Atempause redet er weiter:

„Der Beständigkeit folgt die Ehre! Ehre gewinnt man stets zuerst durch Ehrlichkeit. Sie bildet den Charakter. Ehrgefühl wird durch immer liebevolle, wenn nötig durch strengere Erziehung vermittelt. Der Herr soll immer bemüht sein, sich für soziale Zwecke einzusetzen, denn nur durch uneigennützigen Dienst in der Gesellschaft wird ihm Ehre und Respekt zuteil - Werte, die man sich immer verdienen muss und sie begründen keinerlei Verpflichtung der Gesellschaft, dem Herrn gegenüber. Der Herr ehrt auch seine Feinde und gibt immer eine zweite, falls nötig eine dritte Chance. Er verzichtet darauf, sich einen in seinen Augen unfairen Vorteil zu verschaffen. Er nutzt eine Notlage nicht aus und vermeidet es, andere zu übervorteilen.
Der Ehre steht die Schande gegenüber! Hier handelt es sich um einen Zustand des gesunkenen Ansehens und des beschädigten Rufes. Schändliches Handeln bedeutet das Verpassen keiner Gelegenheit, unehrenhafte Dinge zu tun, mit unehrenhaften Leuten oder mit Leuten zweifelhaften Rufes zusammen zu kommen, um korrupten Handel zu treiben, um sich alleine zu profilieren und zu bereichern.“

Osawa-San macht wieder eine Pause.

„Es folgt das Maßhalten. Es steht über allem. Es bedeutet ‚rechtes Maß zu halten‘ und den Mittelweg zwischen Exzess, Übertreibung und Passivität zu finden. Nur durch Maßhalten wird richtiges, gutes Leben und Handeln erreicht. Dem entgegen steht die Maßlosigkeit, das ist mangelnde Selbstbeherrschung. Die Maßlosen raffen ständig und überall nach Sattheit, Geld und/oder Titeln. Sie sind die Ersten am Buffet und dort, wo es etwas umsonst gibt. Sie sind aber auch immer gerne bereit, jeden Preis zu bezahlen, wenn es der eigenen ‚Erhöhung’ dient.“

Er schaut mich an und wartet eine Weile. Dann zitiert er weiter aus dem Gedächtnis:

„Nun folgt die Zucht. Sie bedeutet Selbstbeherrschung und Moderation im eigenen Verhalten und ermöglicht erst das Zusammenleben mit Anderen in der Gesellschaft. Zucht hat in diesem Sinne nichts mit Züchtigen zu tun. Dem Herrn ist es untersagt, ihm Untergebene aus reiner Lust zu züchtigen. Die Unzucht nun, meint ungezogenes Verhalten und ist ein Kennzeichen antisozialer Handlungsweise. Durch ungezogene Gestik, unangemessen lautes Lachen oder unüberlegte Sprache disqualifizieren sich Unzüchtige stets selber. Man erkennt sie am ehesten daran, dass sie ‚Wasser predigen und selber Wein saufen’.“

Nach einer Gedankenpause redet er weiter:

„Dann komme ich zur Demut, das heißt ‚Dienstwilligkeit, Dienstbereitschaft’. Sie ist völlig unabhängig von der eigenen Position. Sie bedeutet Loyalität gegenüber den Vorgesetzten, oder auch ‚Mut zum Dienen’ zum Schutz der Armen oder Machtlosen. Wir wenden uns immer tätig gegen geoffenbartes Unrecht und sagen offen unsere durchdachte Meinung. Dem gegenüber steht der Verrat, das bedeutet ‚Verweigerung des Dienstes’.“

Eine weitere bedeutungsvolle Pause folgt.

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