Dienstag, 30. August 2022
Kaede, die Samurai -04
Ich lege mir das Papier auf dem Tisch zurecht, greife nach dem Pinsel und setze die Zeichen sorgfältig. Anschließend drehe ich den Bogen und reiche ihn der One-San beidhändig. Wenn ich recht überlege, ist der Brief sicher eine Prüfung gewesen. Eine Prüfung, bei der ich nicht schlecht abgeschnitten habe. Sicher erfährt die Mutter bald darauf davon.

*

Vier weitere Monde sind ins Land gegangen. Die One-San ist sehr streng mit mir im Training. Oft genug falle ich spät abends vor Erschöpfung in tiefen Schlaf. Eines Nachmittags, sie hat gerade ein Bad genommen und sitzt nun im Seiza vor dem dreiteiligen Spiegel, als sie sagt:

"Wir werden dich für heute Abend zurechtmachen."

Ich bin schon seit jungen Jahren daran gewöhnt, mein Haar selbst in Form zu bringen. Ich habe geübt bis mir die Arme weh getan haben, das Haar in Partien unterteilt, sie einzeln hochgeschlagen, vor und zurück, und sie dann mit farbigen Bändern befestigt. Zum Schluss dann die steife Haarrolle am Hinterkopf.

Jetzt sitze auch ich im Seiza vor dem Spiegel und die One-San legt Hand an. Mit einem feinzinkigen Kamm macht sie sich ans Werk. Bald laufen mir Tränen über die Wangen. Sie erhitzt eine Stange Wachs und arbeitet es in mein Haar ein bis sich mein langes Haar in ein aufgetürmtes Gebilde aus Schlaufen und Rollen verwandelt hat, glatt und schimmernd wie polierter Lack. Vorsichtig hebe ich die Hand. Mein Haar fühlt sich steif und leicht klebrig an.

Die One-San legt mir kurz ihre Hände auf die Schultern.

"Hier," sagt sie. "Ein Amulett. Stecke es dir hinten ins Haar, wenn wir das Okiya verlassen. Aber lass' es die Mutter nicht sehen! Es schützt dich davor, ausgewählt zu werden."

Nun nimmt sie ein kleines Stück Wachs und knetet es zwischen den Fingern. Sie reibt damit mein Gesicht, Hals und Nacken ab. Anschließend schminkt sie die Hautpartien hell, aber nicht so grellweiß wie ihr eigenes Gesicht. Danach schwärzt sie meine Augenbrauen und färbt mit einem Pinsel meine Unterlippe leuchtend rot.

"Steh auf," höre ich nun.

Ich erhebe mich und muss mich bis auf die Unterkleidung ausziehen. Nun bindet mir die One-San einen Unterrock aus scharlachrotem Seidenkrepp um. Dann hilft sie mir in eine weiße Unterbluse mit rotem Kragen und langen roten Ärmeln. Jetzt folgt ein bestickter rosa Kimono mit langen Ärmeln und gestepptem Saum. Endlich kommt der Obi aus vier Meter langem Brokat. Sie zieht und zerrt bis der Obi so eng sitzt, dass ich kaum noch atmen kann und bindet dann den Knoten im Rücken.

Mein Blick sucht den Spiegel. Der Anblick übt eine gewisse Faszination auf mich aus.

"Jetzt heb' deinen Rock mit der linken Hand und geh' ein paar Schritte!" fordert mich die One-San auf.

Sie nickt lächelnd, als ich im Zimmer auf und ab gehe.

"Mehr brauchst du heute Abend nicht zu machen," meint sie. "Gehen und dann sitzen. Konzentriere dich darauf, das so gut wie möglich zu tun. Fließende Bewegungen, wie du es gelernt hast. Du brauchst nicht sprechen! Das übernehme ich. Beobachte und höre zu. Das ist alles!"

Es beginnt zu dämmern und eine Glocke läutet die Stunde des Huhns (17 bis 19 Uhr) ein. Die One-San erhebt sich würdevoll. In ihrer Aufmachung gleicht sie einem Wesen aus einer anderen Welt. Die Tür zum Korridor wird beiseite geschoben. Oka-San steht uns gegenüber. Sofort gehen wir beide in die Knie und beugen den Oberkörper tief herunter. Sie kommt direkt auf mich zu und befiehlt:

"Steh' auf!"

Sie zupft an meinem Kimono und dem Obi herum, steckt eine Haarsträhne fest und wirbelt mich herum. Nun tastet sie nach dem Amulett. Eben erst habe ich es mir hinten ins Haar gesteckt. Ich erschrecke, aber die Mutter zeigt nur ein wissendes Lächeln.

"Mit ihr warten wir noch ein Weilchen!" bestimmt sie.

Die One-San verbeugt sich und nickt.

"Schauen wir einmal, was für Angebote hereinkommen," meint sie.

"Komm," fordert mich die Mutter auf. "Es wird Zeit, dass dich die Welt sieht!"

Die Oka-San macht einen Schritt zur Seite und die One-San tritt hinaus auf den Korridor. Ich folge ihr einen halben Schritt dahinter. Den Abschluss bildet die Mutter, die auch noch die Tür zu Mamiko-Sans Zimmer zuzieht.

Wir gehen langsam die Treppe hinunter zu den Räumen, aus denen uns Musik, Gesang und Gelächter entgegenschallt. Der Korridor ist vom Rascheln der Seiden-Kimonos und von Parfümwolken erfüllt. Dann öffnen Dienstboten die beiden Flügel einer Doppeltür und verbeugen sich tief. Ich rieche Staub, Gebratenes und Rauch. Wir betreten die Straße.

Mit den Händen an meiner Taille lenkt die One-San mich vorwärts. Plötzlich stürzt eine junge Frau aus dem Haus, bei dem wir gerade angekommen sind.

"Kikka Ochaya e yokoso -Willkommen im Chrysanthemen-Teehaus-! Treten Sie ein! Treten Sie ein!"

Die One-San verneigt sich und lächelt die Frau an. Ich mache es der One-San gleich. Wir wenden unsere Schritte auf den Eingang des Hauses zu. Die junge Frau öffnet uns und verbeugt sich tief bei unserem Eintreten.

"Das Chrysanthemen-Teehaus ist das beste in Yoshicho," erklärt die junge Frau, die uns eingeladen hat.

Sie führt uns an einen Tisch und lässt uns kurz allein. Kurz darauf kommt sie mit einem Tablett, auf dem sich zwei Kännchen Tee und zwei Tassen befinden. Sie platziert den Tee vor uns und zieht sich rückwärtsgehend unter vielen Verbeugungen zurück.

"Die Teehäuser sind sehr wichtig," erklärt mir die One-San. "Hier lernt man die Männer kennen. Die Männer kommen, um den Tanzvorführungen der Geishas zuzuschauen, oder sich mit ihnen zu unterhalten. Eine geistreiche Konversation zu führen, ist sehr wichtig! Manche Männer kommen immer nur wegen ein und derselben Geisha, anderen ist es egal wer sie unterhält. Die Besitzer der Teehäuser können auch Männer empfehlen, denn sie kennen ihre Stammkunden genau."

Ich höre ihr sprachlos zu. Sie redet weiter:
"Die Besitzerin des Chrysanthemen-Teehauses war einmal die berühmteste Geisha dieses Bezirks. Als sie sich in ihrem Okiya freikaufen konnte, hat ihr Gönner ihr dieses Teehaus eingerichtet. Es ist jetzt das Beliebteste am Platz. Es hat die besten Kunden und die besten Verbindungen."

In diesem Moment nähert sich die junge Frau von vorhin vorsichtig, als würde sie sich anschleichen und flüstert der One-San etwas zu. Sie nickt und erhebt sich. Dann lässt sie sich von der jungen Frau an einen Tisch in der Nähe führen. Ich folge den Beiden.

An diesem Tisch sitzen zwei Männer in Kaufmannskleidung. Die Frau nickt ihnen zu und verschwindet wieder. Die One-San geht auf die Knie und verbeugt sich tief. Ich ahme sie nach und wir wünschen im Chor:

"Konbanwa -Guten Abend-!"

Die beiden Männer wenden ihre Köpfe zu uns.

"Ah, Mamiko-San!" sagt der Ältere und nickt uns zu. "Du hast heute jemand mitgebracht?"

"Ja, Tanaka-Sama. Das ist meine Imoto -jüngere Schwester- Moe-San -Knospe-. Sie lernt noch."

Die One-San greift zu dem Sake-Krug und füllt die Becher der beiden Männer nach.

Dann stellt sie zwei Becher nebeneinander, legt zwei Essstäbchen quer darüber und platziert einen weiteren Becher auf das Arrangement. Der ältere Mann lächelt und fragt seinen Begleiter:

"Haben Sie schon einmal das 'Konpira Fune Fune' gespielt?"

Dieser hebt die rechte Hand und wedelt damit in der Luft, während er unsicher lächelt.

"Dann führen wir es Ihnen einmal langsam vor," meint der ältere Mann. "Danach versuchen Sie es einmal in normaler Geschwindigkeit."

"Hai -Ja-," bestätigt der andere Mann.

Der Wortführer wechselt nun seinen Platz und setzt sich gegenüber der One-San an den Tisch. Nun stimmt die One-San das Lied 'Konpira Fune Fune' an. Sie singt in einem langsamen Rhythmus, als müsse sie sich die Worte in Erinnerung rufen. Während der ältere Herr seine Hände flach aufeinander legt, ballt die One-San die Hand zur Faust, die sie auf ihre andere Hand legt.

Dann nimmt sie den oberen Becher weg und stellt ihn wieder zurück. Wenn der Becher an seinem Platz steht, sobald man an der Reihe ist, muss der Spieler ihn mit der flachen Hand berühren. Wenn der Becher nicht an seinem Platz steht, wenn man an der Reihe ist, weil die One-San ihn schnell weggezogen hat, muss der Spieler den Tisch mit der Faust berühren. Wenn man das nicht macht, verliert man das Spiel und muss einen Schluck Sake trinken. So kann das Spiel zwischen der Maiko oder Geisha und ihren Kunden als Eisbrecher gespielt werden. Die Stimmung wird gelöster. Wenn die Essstäbchen herunterfallen, baue ich das Spiel geschwind neu auf.

Die Hand des älteren Herrn ist im falschen Augenblick vorgezuckt. Nun lacht er und trinkt einen Schluck Sake. Beim nächsten Versuch hat er den Becher abgehoben, während die One-San sich nicht bewegt hat. So geht es mit wechselndem Glück hin und her. Die One-San hat eine gute Reaktion. Gegen Ende wird das Spiel rasanter.

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