Mittwoch, 24. August 2022
Kaede, die Samurai -02
Aber als ich das Tor am Ende der Brücke erreiche, ist es nicht bewacht. Einige Passanten gehen ungehindert hindurch. Also trete ich aus dem Schatten und passiere das Tor ebenfalls. Nun eile ich über den staubigen Platz vor dem Tor und schaue mich suchend um.

"Folge der Hauptstraße!" hat mein Herr gesagt, bevor er in den Krieg gezogen ist.

Von hier gehen Straßen in alle Richtungen. Ich entscheide mich für die Breiteste. An den Rändern der Straße sind alle Läden vernagelt. Linker Hand soll sich ein Laden befinden, dessen Besitzer meinem Herrn verpflichtet ist. Dieser würde mir weiterhelfen. Ich versuche, die Beschriftungen zu lesen. Endlich entdecke ich den Laden, den mein Herr mir benannt hat.

Hier sieht es nicht anders aus, als in der Nachbarschaft. Ich sinke vor dem Geschäft entmutigt zu Boden und lehne mich gegen die Eingangstür. Erschrocken richte ich mich sitzend auf. Die Tür hat knarzend nachgegeben. Ich schlüpfe hinein und lege von innen den Riegel vor. Hier drin ist es stockfinster. Mit vorgestreckten Händen taste ich mich vorwärts und fühle bald eine Wand, an der ich mich entlang hangele bis ich eine Schiebetür erfühle.

Ich schiebe sie zur Seite, gehe hindurch und schließe sie wieder. Noch einmal orientiere ich mich tastend weiter und stoße mit dem Fuß gegen einen Futon. Als es jetzt raschelt, erschrecke ich zutiefst.

Eine Frauenstimme fragt: "Wer ist da?"

Ich gehe auf die Knie, verbeuge mich und antworte:
"Tanaka Kaede wa kochira -Tanaka Kaede ist hier-," verschüchtert flüsternd.

"Was tust du hier?" fragt die Frau.

Sie spricht in schnellem hohen Straßenjargon.

"Mein Herr -Okyaku-Sama- hat mir gesagt, hier würde man sich in der Not um mich kümmern," flüstere ich.

Mir ist kalt. Ich blase Atem in meine zu Fäusten geballten Hände.

"Alle sind fort," antwortet die Frau. "Das heißt, alle, die es sich leisten konnten. Das Geschäft wurde geschlossen."

Angst steigt in mir hoch. Eine Frau sollte nicht alleine unterwegs sein. Warum weicht mein Gegenüber von der Regel ab?

"Warum sind Sie geblieben?" frage ich sie.

"Mein Haigusha -Gatte- hat mir befohlen, auf das Haus zu achten, bis er aus dem Krieg wiederkehrt. Aber ich glaube langsam nicht mehr daran. - Eine junge Frau, die so gebildet spricht wie du, sollte nicht alleine sein, das ist gefährlich!"

"Mein Herr, der Daimyo von Kano hat mir das Gleiche aufgetragen. Aber Verbrecher sind eingebrochen. Ich konnte fliehen. Tanaka-Sama hat mich für den Notfall hierher geschickt. Der Herr des Hauses wäre ihm verpflichtet, hat er gesagt."

"So..." antwortet die Frau. "Ich bin übrigens Yamaguchi Aiko. Du hast Glück gehabt, dass du es bis hierher geschafft hast. Draußen wimmelt es von Gesindel und Ronin -herrenlosen Samurai-."

"Ich bin mir so sicher gewesen, dass ich hier jemand finde, der mich aufnimmt," sage ich enttäuscht.

"Schlafe erst einmal. Morgen zeige ich dir einen Ort, wo du bleiben kannst. Dort ist es warm und sicher."

"Wirklich?"

"Arbeit gibt es da auch. Du könntest Näherin werden, Wäscherin, Dienstbotin, oder Gesellschafterin. Du kannst sicher auch lesen und schreiben. Leute, wie du, werden dort immer gesucht."

"Aber - wo ist dieser Ort?"

Ich werde allmählich unsicher.

"Du hast doch sicher von Nihonbashi Yoshicho gehört, dem Hanamachi -Blumenviertel-? Dir wird nichts anderes übrigbleiben, wenn du nicht untergehen willst! - Komm, leg dich zu mir auf den Futon und schlafe erst einmal."

Das Yoshicho! Mein Atem stockt. Jeder weiß, was das ist - ein farbenprächtiger, lärmender Ort, wo die Lichter niemals ausgehen. Mit rauen Sitten und voll grell geschminkter Frauen. Im Hanamachi suchen die Männer Vergnügungen.

Entsetzt wedele ich mit der erhobenen Hand, was für uns Japaner eine Ablehnung bedeutet, und sage:

"Der Ort ist nicht gut! Ich muss darüber nachdenken."

"Das ist der einzige Ort, an dem du sicher bist!" beharrt sie. "Aber nun schlafe erst einmal!"

Scheu lege ich mich zu der Frau und klammere mich an meinem Bündel fest. Schlafen kann ich lange nicht.

*

Am nächsten Morgen liege ich alleine auf dem Futon. Stattdessen höre ich in einem angrenzenden Raum Küchenarbeitsgeräusche. Durch Ritzen in den vernagelten Fenstern dringt Tageslicht herein und zeichnet bleiche Streifen auf die Tatami-Matten. Lange liege ich noch wie gelähmt auf dem Futon, keines Gedankens fähig.

Schließlich kommt die Frau heran und stellt zwei Reisschalen und grünen Tee vor den Futon. Sie ist in den Seiza -Kniesitz- gegangen und schaut zu, wie ich mich nun rege. Ich rolle vom Futon herunter und gehe ebenfalls in den Seiza.

"Ohayo gozaimasu -Guten Morgen-, Tanaka-San," wünscht sie mir.

"Ohayo gozaimasu, Yamaguchi-San," antworte ich und verbeuge mich leicht. "Subete ni kasha shimasu -Vielen Dank für alles-."

"Du musst dir etwas einfaches anziehen!" meint sie nun. "Deinen Kimono darfst du gerne in deinem Bündel mitnehmen. Auch brauchst du Zori -Grassandalen-, damit du draußen nicht auffällst."

Sie zeigt mir, was sie meint. Nachdem ich meine Schminke abgewaschen und mein Haar zu einem dicken Zopf geflochten habe, sehe ich aus wie eine Dienstbotin.

"Gut," meint sie nun. "So fällst du draußen auf der Straße nicht auf."

"Wo gehen wir hin?" frage ich neugierig.

"Wir müssen durch einige schmale Gassen. Du scheinst eine Samurai zu sein. Da dürfte das kein Problem sein, denke ich."

Kurze Zeit darauf verlassen wir das Haus kriechend durch einen niedrigen Nebeneingang. So ist Yamaguchi-San sicher, dass niemand in der Zwischenzeit das Haus betritt. Mein Herr, der Daimyo, hat früher oft damit geprahlt, wie beliebt er bei den Frauen dort gewesen ist. Nun werde ich selbst bald dort sein. Mein Herz klopft.

Irgendwie zieht mich das Yoshicho magisch an und lässt meine Schritte schneller werden. Der eisige Wind, der durch die Hauptstraße fegt, ist in den Gassen erträglicher. Steinchen drücken sich durch meine Zori. Ich folge Yamaguchi-San. Schließlich erreichen wir eine Brücke, die einen Graben überspannt. An deren anderen Ende ragt ein großes Tor auf, aus dem in diesem Moment ein Mann heraustritt und uns den Weg versperrt.

Er blickt grimmig auf uns herab, doch Yamaguchi-San zückt ein Papier und wedelt damit vor ihm herum. Gleichzeitig steckt sie ihm ein paar Münzen zu. Nun grinst er breit, zwinkert und sagt:

"Irasshaimaseee, Okyaku-Sama -Willkommen, meine Damen-! Amüsieren Sie sich gut."

Wir betreten das Yoshicho. Ich halte den Blick gesenkt, nur darauf bedacht, den Anschluss zu Yamaguchi-San nicht zu verlieren. Menschen drängen sich vorbei. Kleidung aus Seide streift meine Hände. Unter Kimonos schauen winzige Füße in Getas mit Satinbändern hervor. Hölzerne Sandalen klappern vorbei.

Ich nehme süße Düfte wahr. Dann nehme ich die Aromen exotischer gebratener Speisen wahr. Neugierig schaue ich auf und reiße erstaunt die Augen auf. Edo liegt zerstört und verlassen da, doch hier pulsiert das Leben! Samurai mit schimmernd geölten Haarknoten stolzieren neben Kaufleuten in Seide einher. Händler drängen sich mit ihren Handkarren hindurch und Dienstboten huschen von einer Straßenseite zur Anderen. Verzaubert von dem Anblick verharre ich im Schritt. Da zieht mich Yamaguchi-San in eine dunkle Gasse und durch eine offene Tür.

Eine Dienerin kommt uns entgegen, heißt uns willkommen und schüttet etwas Wasser aus einem Krug in eine Schüssel, damit wir uns die Füße waschen können. Yamaguchi-San führt mich über die schmale Veranda außen an vielen Zimmern vorbei, hinter deren Regentüren Musik und Gelächter zu hören ist, und schiebt dann eine der Türen auf.

Mein Blick erreicht eine Frau, die im Seiza an einem niedrigen Tisch sitzt und im Licht einer Öllampe Einträge in einem Kontobuch macht. Sie trägt einen schlichten schwarzen Kimono, gegürtet mit einem grünbraunen Obi. Ihr Haar hat sie zu einem schlichten Knoten hochgebunden. Außerdem steht ein Kännchen und eine Tasse auf dem Tisch. Daneben liegt ein langes Mundstück, in deren Spitze eine Zigarette steckt.

Sie schaut auf und wendet sich zu uns. Ich habe den Eindruck, dass sie mich durchdringend mustert. Ihre Haltung beweist solchen Stolz und Dominanz, dass ich am liebsten im Boden versinken möchte. Yamaguchi-San geht auf die Knie und zieht mich mit herunter. Anschließend verbeugt sie sich tief. Automatisch mache ich die Bewegung mit.

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