Sonntag, 21. August 2022
Kaede, die Samurai -01
--Zehnter Mond im Jahr des Drachen, Meiji--

Bei Kerzenlicht in ein Buch vertieft, sitze ich im Seiza -Kniesitz- neben dem Kohlebecken im Washitsu -Hauptraum- des Hauses. Bald wird das Bangohan, das Abendessen, fertig sein. Außer mir befinden sich nur noch Bara -Rose-, meine Köchin, und Kuro -9.Sohn-, der Dienstbote im Haus. Beide sind damals bei meiner Hochzeit aus dem Haus meiner ehrenwerten Eltern mit mir in das Haus meiner Schwiegereltern gekommen.

Mein Herr und Ehemann ist zu den Waffen gerufen worden. Mit ihm sind alle Knechte in blauen Uniformen gegangen. Dieses Haus steht in Edo und ist die Residenz des Daimyo von Kano. Außer dieser Residenz befinden sich noch 260 weitere in der Stadt, der größten Stadt der Welt, wie man sagt.

Mein Herr hat sich zum Abschied vor seinem Vater verneigt.

"Ich bin stolz auf dich, mein Sohn," hat der alte Mann gesagt und ihn gesegnet.

Niemand kann sich erinnern, dass die Stadt jemals bedroht gewesen ist. Nun steht das feindliche Heer vor den Toren. Die halbe Bevölkerung ist geflohen. Auf der Straße vor dem Haus ist es ruhig. Nur noch das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Zweige im Wind ist zu hören.

Einige Monde später hat der Schwiegervater mich zu sich gerufen. Der Daimyo hat einen Brief auf seinem Schoß, als ich eingetreten bin. Ich habe mich ehrfurchtsvoll verbeugt. Auf seinem Gesicht hat ein niedergeschlagenes Lächeln gelegen.

"Uns ist befohlen worden, in unser Shogunat, nach Kano, heimzukehren," eröffnet er mir. "Du musst hierbleiben. Du gehörst in dieses Haus. Wenn unser Sohn eines Tages zurückkehrt, musst du anwesend sein und ihn begrüßen!"

Ich habe genickt, mich verbeugt und rückwärtsgehend zurückgezogen. Die Dienstboten haben gepackt und seitdem bin ich mit Bara und Kuro alleine in der Residenz. Normalerweise bin ich Teil eines großen Haushaltes. Jetzt sitze ich hier und verbringe meine Zeit mit Lesen, während die hölzernen Regentüren, die als Wände dienen, rundum verriegelt und die Tore verschlossen sind.

Von Kano haben uns immer wieder nur schlechte Nachrichten erreicht. Einen Mond nach der Abreise sind uns grausige Nachrichten über Hinrichtungen in Kano zu Ohren gekommen. Tagelang habe ich getrauert und mich dabei innerlich verhärtet.

Plötzlich vernehme ich das Getrappel vieler Sandalen von der Straße her. Dann folgt ein lauter Schlag, als will man das Haupttor mit einer Ramme aufstoßen. Ich versuche die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Zwar hat mir der Herr eine Handfeuerwaffe für den Ernstfall zurückgelassen, doch ich bin ungeübt im Gebrauch.

'Meine Naginata -Schwertlanze- wird mir bessere Dienste leisten!' bin ich überzeugt.

Die Naginata ist etwa 2,5 Meter lang und hat eine Klinge, die ein Drittel der Länge ausmacht. Sie ist etwa dreimal so lang wie ein Samurai-Schwert. Daher habe ich gegenüber einem Krieger einen Vorteil, den ich schnell nutzen muss. Mir bleibt gerade genug Zeit, einen Streich gegen die Waden des Gegners zu führen, bevor dieser sein Katana -Samurai-Schwert- einsetzen kann. Schwertkämpfer konzentrieren sich meist auf Kopf, Kehle und Brustkorb und schützen sich dementsprechend. Ein Streich gegen ihre Waden überrascht sie immer wieder.

Seit meiner Kindheit habe ich mit der Naginata geübt und bin darin der Stolz meines Vaters, eines kampferprobten Samurai gewesen. Wenn ich die Schwertlanze schwinge, ist sie wie ein Teil meines Körpers.

Ich springe auf, lasse das Buch fallen und eile in die Eingangshalle. Dort hebe ich die Naginata aus ihrer Halterung an der Wand. Das Gewicht der Waffe in meinen Händen, fasse ich neuen Mut. Achtsam ziehe ich die lackierte Scheide ab. Die lange Klinge ist scharf wie ein Rasiermesser, denn ich habe sie stets geölt und poliert gehalten.

Das Hämmern am Tor ist mittlerweile lauter geworden. Immer wieder erzittert es von den dumpfen Schlägen einer Ramme. Bara kommt aus der Küche gelaufen. Sie hält das Santoku in der Hand, ein Allzweckmesser mit einer breiten langen Klinge. Ihre Augen sind vor Schreck und Entschlossenheit weit. Der Geruch von Angebranntem weht hinter ihr her. Kuro, der getreue Dienstbote, hat den Schürhaken aus dem Feuer gezogen. Dessen Spitze glüht rot und er hält ihn wie ein Schwertkämpfer vor sich.

Während ich mein Gewand mithilfe des Gürtels hochbinde, wird draußen vor dem Tor gerufen:

"Öffnet das Tor oder wir brechen es auf!"

Die Schwertlanze lässt sich kaum im Innern des Hauses schwingen. Also muss ich vor das Haus treten. Ich schiebe die Eingangstür auf. Eisige Luft strömt herein. Das plötzliche Tageslicht blendet mich. Ich blinzele und trete hinaus auf den Platz zwischen Haus und Ummauerung. Vor dem Tor gehe ich in Stellung. Ich setze einen Fuß vor den anderen, den Schaft der Schwertlanze entschlossen haltend.

"Öffnet das Tor! Wir wissen, dass ihr da seid!" ruft jemand.

Sandalen scharren draußen. An der Außenmauer sind kratzende Geräusche zu hören. Dann schaut ein Mann über die Mauer. Sein Atem kondensiert zu feinem Nebel in der kalten Luft.

"Niemand da! Nur zwei Mädchen und ein Dienstbote," ruft er nach unten.

Von der anderen Seite ertönt abfälliges Lachen.

Ich versuche mich zu beruhigen und atme tief durch. Danach richte ich die Spitze der Naginata auf den Mann, der inzwischen auf der Mauerkrone sitzt. Die Griffe der beiden Samurai-Schwerter ragen über seine Schulter. Zitternd rufe ich mir ins Gedächtnis, dass ich eine Samurai bin und das Haus verteidigen muss.

"Bleib, wo du bist!" sage ich. "Ich weiß, wie man damit umgeht und werde die Lanze einsetzen, wenn du mir keine Wahl lässt."

Der Mann zeigt mir ein höhnisches Grinsen, zieht sein Katana und springt in den Hof herab. Gleichzeitig wird das Tor wieder mit dumpfen Schlägen bearbeitet. Bevor der Mann seinen festen Stand findet, schwinge ich die Schwertlanze mit aller Kraft. Die Klinge fährt durch die Luft und entwickelt eine große Schwungkraft.

Bebend vor Entsetzen stolpere ich zurück, denn in der Brust des Mannes klafft ein langer Riss und Blut spritzt in hohem Bogen heraus. Eigentlich habe ich erwartet Widerstand zu spüren. Aber da ist keiner gewesen. Die Klinge ist mit solcher Leichtigkeit durch Fleisch und Knochen gefahren, als wäre es Wasser.

Der Mann fällt vornüber. Bara und Kuro laufen zu ihm und nehmen ihm das Katana -Langschwert- und das Wakizachi -Kurzschwert- ab. Weitere Männer erscheinen auf der Mauerkrone. Ich stoße mit der Lanze nach dem Nächsten, verdrehe die Klinge und ziehe sie zurück. Inzwischen sind die Anderen in den Hof gesprungen. Bara und Kuro verteidigen sich beidhändig mit den erbeuteten Waffen.

Bara erwischt den Mann, der sie bedrängt, am Oberschenkel. Der Mann stolpert zurück und hält sich sein Bein, während ich die Schwerthand des Mannes, der Kuro bedrängt, mit der Naginata -Schwertlanze- durchtrenne. Sofort schießt ein dicker Strahl Blut aus dem Stumpf hervor.

Immer mehr Männer klettern auf die Mauer.

"Schnell!" rufe ich. "Wir müssen wieder hinein und das Haus verbarrikadieren!"

Wir ziehen uns zurück und verriegeln die Eingangstür.

"Die sind hinter Ihnen her, Okyaku-Sama -Herrin-! Sie müssen fort!"

"Und euch zurücklassen? Niemals!" rufe ich aus, immer noch voller Adrenalin.

"Wir sind nur Dienstboten! Uns werden sie nichts tun. Wir bleiben hier und halten sie auf!"

Bara hält den Kopf schräg und hält den Finger an die Lippen. Draußen sind Schritte zu hören. Das Tor hat nicht mehr standgehalten. Die Männer sind im Hof. Mit wild klopfendem Herzen greife ich mir eine wattierte Jacke, schlinge mir einen Schal um den Kopf, und renne durch einen Raum nach dem Anderen. Am Hinterausgang greife ich mir ein bereitliegendes Bündel. Ein letztes Mal drehe ich mich um und präge mir das Bild ein. Ich werde wohl nie mehr zurückkehren.

Nun laufe ich durch den Park der Residenz zum Tor an der rückwärtigen Mauer. Ich drücke es auf und verschließe es hinter mir wieder. Dann laufe ich ein Stück die Mauer entlang und in eine schmale Gasse hinein. Keuchend renne ich weiter und wage nicht, stehen zu bleiben.

Erst als ich den Fluss erreiche, stoppe ich und atme tief durch. Die frostige Luft schmerzt in der Lunge. Ich taste nach dem im Obi -Gürtelschärpe- verborgenen Dolch und versuche mich zu erinnern, was mir mein Herr vor Monden gesagt hat. Die Fähre! Die Fähre wird mich übersetzen! Ich laufe den Treidelpfad gegen die Strömung entlang. Zunehmende Dunkelheit des fortschreitenden Abends umfängt mich.

Ich ziehe das Tuch noch ein wenig fester um den Kopf, auch wenn es meiner Frisur nicht gut bekommt. Heute Morgen hat mir Bara das letzte Mal geholfen, meine langen Haare im Marumage-Stil zu frisieren. Endlich erreiche ich die Brücke, die hier zum Stadttor führt und betrete sie. Mein Herz klopft. Am Tor steht bestimmt ein Wachposten. Ich habe in der Eile meine Papiere vergessen einzustecken.

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