Dienstag, 26. Januar 2021
Yamato Nadeshiko -17-
Sie hat sich wieder aufrecht im Seiza hingekniet und schaut mich nun fragend an. Ich erkläre ihr mein Problem:

„Ich komme aus einem anderen Kulturkreis. Da ich als Kaufmann Geschäftsbeziehungen mit Japan pflege, weiß ich mich im öffentlichen Leben und bei geschäftlichen Treffen zu benehmen. Ich bin aber noch nie privat eingeladen gewesen. Wie läuft so ein Tag im privaten Umfeld ab?“

Sato-San schaut mich fragend an. Ich präzisiere also:

„Beginnen wir ganz klein: Wir sitzen hier beim Frühstück. Was muss ich als nächstes tun?“

Sato-San lächelt höflich und sagt:

„Zuerst wird Tee ausgeschenkt. Dann wird dem Kami gedankt, und anschließend beginnt das Frühstück.“

„Ah,“ meine ich. „So ähnlich habe ich das gestern Abend bei Tanaka-San gesehen. Gibt es schon beim Tee etwas Besonderes zu beachten?“

„Der Shujin fordert mich auf, den Tee auszuschenken…“

„Okay, Sato-San. Dann schenke jetzt den Tee aus!“

Die junge Frau hebt die Kanne von einem Stövchen mit Kerze und füllt meine Tasse. Ich tunke nun zwei Finger in die Tasse und benetze den Stein, der auch auf meinem Tisch steht. Dann hebe ich die Tasse an den Mund und nehme einen kleinen Schluck. Sato-San hat ihre Hände in ihren Schoß gelegt und schaut unbeteiligt an mir vorbei. Eine Gefühlsregung kann ich nicht erkennen und weiß daher nicht, was sie denkt. Ich frage sie lächelnd:

„Haben Sie schon gefrühstückt, Sato-San?“

Sie kommentiert das mit:
„Der Shujin hat mir keinen Tee ausgeschenkt…“

„Oh, sumimasen -Entschuldigen Sie vielmals!“ erwidere ich.

Schnell schenke ich auch ihr eine Tasse Tee aus. Und setze eine der gefüllten Schalen vor sie. Die Andere stelle ich vor mich. Nun frühstücken wir beide. Nach dem Frühstück frage ich Sato-San noch einmal nach dem korrekten Ablauf, wenn sie mich bedient. Sie erklärt, dass ich ihr die Tasse und danach die Schale abnehmen und vor sie stellen sollte. Erst die zweite Tasse und dann die Schale soll ich vor mich stellen. Ich nehme mir vor, in Zukunft darauf zu achten.

Anschließend bringt sie das Tablett mit dem leeren Geschirr aus dem Raum. Ich nutze die Zeit, um schnell im Bad und auf der Toilette zu verschwinden. Als ich in mein Zimmer zurück will, sitzt sie im Seiza neben der Tür.

Ich bin etwas irritiert und sage:
„Ich ziehe mir schnell etwas an.“

Drinnen öffne ich den Wandschrank und schaue, was ich dort zum Anziehen finde. Dabei orientiere ich mich am Auftreten von Tanaka-San und Morishita-San gestern Abend. Als ich mein neues Outfit angelegt habe, öffne ich die Zimmertür und frage Sato-San:

„Stimmt alles mit meinem Outfit?“

Ich erlaube ihr auf Nachfrage, Hand an mich zu legen. Sie korrigiert den Sitz der Kleidungsstücke ein wenig. Dann scheint auch sie zufrieden zu sein mit meinem Auftritt.

Ich frage:
„Sumimasen, Sato-San -Entschuldigen Sie vielmals, Frau Sato. Darf ich fragen, welche Funktion Sie hier auf der Insel bekleiden? Ich bin fremd hier. Sind Sie eine Gesutoadobaiza -Gästebetreuerin-?“

Sato-San verbeugt sich tief und erklärt:

„Ich gehöre zum Haushalt des Kanrisha -Ortsvorstehers- Tanaka-Sensei und bin eine Meido -Magd-. Ja, für die Dauer ihres Aufenthalts auf Bunrei no Schima bin ich so etwas, wie ihre Gesutoadobaiza -Gästebetreuerin-, Schmidt-San. Mein Auftrag ist es, alle ihre Wünsche zu erfüllen.“

„Arigato gozaimasu -Vielen Dank-!“ antworte ich lächelnd.

Nun nehme ich mein Handy und tippe eine Nachricht an Morishita-San. Nach dem Morgengruß frage ich, ob er Zeit hat, mich ein wenig auf der Insel herum zu führen, und wenn, wo ich ihn finden kann.

Er nennt mir das Kraftwerk tief im Bauch der Insel als Treffpunkt und fragt, ob er mir jemanden senden soll, der mich führt.

„Wenn ihre Gästebetreuerinnen sich auskennen, lasse ich mich gerne von der Frau führen, die mich heute Morgen mit Frühstück versorgt hat,“ schreibe ich zurück.

Ich frage nun Sato-San:
„Sato-San, kennst du dich soweit auf der Insel aus, dass du mich führen könntest?“

Sie beugt ihren geraden Oberkörper etwa in einen 30Grad-Winkel vor und antwortet:

„Alles kenne ich leider nicht. Ich habe mittlerweile ein grobes Muster im Kopf, wo welcher Shi -Herr- wohnt und damit wo sich welche Abteilungen befinden.“

„Okay,“ sage ich, „weißt du, wo sich der Arbeitsplatz von Morishita-San befindet?“

„Hai -Ja-, mein Shujin.“

„Gut,“ antworte ich. „Dann bringe mich zu Ingenieur Morishita-San, kudasai -bitte-.“

Sie führt mich nun den Gang zurück zu den Aufzügen. Jetzt bemerke ich, dass mehrere Aufzüge gebündelt sind. Sie nimmt aber wieder den Express-Aufzug und drückt einen Zielknopf.

Anschließend fällt der Aufzug in die Tiefe. Ich habe das Gefühl leichter zu sein. Bald bremst der Aufzug sanft ab und hält an. Die Tür fährt zur Seite und wir stehen in einem kurzen Gang, an dessen Ende Morishita-San vor einer offenen Tür steht.

„Aisatsu -hallo-, Schmidt-San,“ begrüßt er mich lächelnd. „Eine Führung durch die Technik kann ich Ihnen leider nur virtuell bieten. Wir haben hier im Kontrollraum die Möglichkeit, alles über Kameras zu überwachen. Schauen Sie!“

Er zeigt mir einen Bildschirm an seinem Platz, zu dem wir während des Gesprächs gegangen sind, und tippt einige Knöpfe. Man sieht Fische im Halbdunkel vor großen Gebilden, die Schiffsschrauben ähneln und sich langsam drehen.

„Sie haben sich sicher schon gefragt, woher wir die Energie für unsere Insel beziehen, Schmidt-San. Diese Schrauben haben nur einen geringen Reibungswiderstand und ein Gitternetz schützt sie vor dem Blockieren durch Fische und größere Schwebstoffe im Wasser. Sie werden durch die Strömung bewegt und die Drehbewegung wird in elektrische Energie umgewandelt. So brauchen wir weder Atomkraft noch fossile Brennstoffe.“

„Interessant,“ sage ich staunend. „Eine umweltfreundliche Energieerzeugung!“

„Ja,“ sagt Morishita-San stolz. „Diese Inseln sollen ihre Bewohner möglichst autark sein lassen. Trotzdem dürften in Zukunft Vakas -Reisekanus der Polynesier- von Insel zu Insel fahren, um Handel zu treiben und Informationen auszutauschen. Der Mensch ist schließlich ein geselliges Lebewesen!“

„‘Möglichst autark‘ bedeutet auch, dass Nahrung und Kleidung weitgehend auf der Insel erzeugt wird?“ Ich schaue meinen Geschäftsfreund fragend an.

Er nickt eifrig und holt eine andere Perspektive auf den Bildschirm. Er erklärt weiter:

„Durch diese Kamera können Sie zum Beispiel den Eingang unserer Fischreuse sehen.“ Er lächelt. „Das ist ein antiquierter Name für das, was sie hier sehen, aber er erklärt bildhaft, um was es sich handelt. Wieder verhindert ein Gitter, dass Haie oder Delfine hineingeraten. Ist die ‚Reuse‘ voll, wird sie geschlossen und das Wasser abgepumpt. Nun gehen Männer hinein und sortieren ungenießbares Meeresgetier aus, dass wieder ins Meer entlassen wird. Die restlichen Fische kommen dann in die Verarbeitung.“

„Ah,“ sage ich, „damit kann der Bedarf an tierischem Eiweiß gedeckt werden. Aber das ist sicher nicht alles?“

„Morichon chigaimasu -Nein, natürlich nicht-,“ bestätigt Morishita-San. „Pflanzliche Lebensmittel züchten wir auf den verschiedenen Ebenen. Für deren Verarbeitung haben wir wieder Anlagen im Inneren.“

Ich nicke: „Pflanzliche und tierische Produkte machen unsere Ernährung aus. Die Grundbedürfnisse des Menschen umfassen Nahrung, Kleidung, Wohnung.
Wenn Kleidung und Wohnung aus natürlichen Materialien hergestellt werden sollen, der Umwelt zuliebe, wo bekommen Sie die her?“

Morishita-San sagt einem Mitarbeiter Bescheid und verlässt mit uns nun die Technik-Zentrale der Insel. Mit einem anderen Aufzug geht es ein paar Etagen höher. Dort führt er uns einen längeren Gang entlang und öffnet dann eine Tür, die nach draußen führt.

„Dies ist die unterste Vegetationsebene. Hier finden Sie Bambushaine, Obstbüsche und niedrigwachsende Obstbäume. Bambus wurzelt nicht tief, sondern breit. Immer wieder durchbrechen Bambusspitzen den Boden und wachsen in die Höhe. Schauen Sie sich um, Schmidt-San. An den Flanken der drei Hochhäuser sehen sie weitere Vegetation. Dort werden Kartoffeln und Gemüse angebaut, auch Reis, sowie weitere Obstbüsche. Für Kirschbäume haben wir spezielle Pflanztöpfe. Natürlich finden sie in den Vegetationsetagen auch Ziergärten nach Zen-Tradition.“

Etwas anderes fesselt gerade meine Aufmerksamkeit. Zu unseren Füßen laufen Hühner herum, deren „Pok, Pok, Pok“ wir schon eine Weile wahrgenommen haben.
Morishita-San lächelt breit. Er kommentiert das:

„Achten Sie darauf, dass Sie den wenigen Hähnen nicht zu nahe kommen. Das könnte sonst schmerzhaft werden. Die Hühner haben uns gehört und sind nun neugierig, ob wir vielleicht Körner für sie haben.“

Ich ziehe mich nun lachend zurück und die Beiden folgen mir hinter die Tür. Drinnen resümiere ich:

„Sie haben ihre Wohnungen und Gemeinschaftsräume über alle Etagen an der Außenwand verteilt, so dass sie überall mit Sonnenlicht erhellt werden. Ihre Produktionsstätten liegen dann innen und werden von Leuchtstoffröhren erhellt, wie früher die Fabrikhallen.“

„Genau,“ pflichtet er mir bei, „und zusätzlich gibt es überall eine leistungsfähige Lüftungsanlage mit Nanofiltern gegen das Ausbreiten von Krankheitserregern.“

Er schaut auf die Uhr und meint:
„Ich denke, es ist Zeit zum Mittagessen. Darf ich Sie in meine Wohnung einladen?“

Ich verbeuge mich und antworte: „Vielen Dank! Gerne.“

Nun fahren wir mit dem Express-Aufzug weiter nach oben und betreten seine Wohnung mit dem gleichen respektvollen Ritual, wie gestern die Wohnung von Tanaka-San, dem Sohn des Kanrisha -Ortsvorstehers-. Morishita-San wird von einer Frau, schätzungsweise Ende 30, respektvoll begrüßt. Er beauftragt sie, das Essen auf der Terrasse vor dem Wohnraum zu servieren. Dann wendet er sich an mich:

„Ihre Meido wird sicher meiner Meido zur Hand gehen können?!“

„Natürlich!“ sage ich. „Sato-San, würden Sie bitte in die Küche gehen und Ihre Hilfe anbieten!“

Sato-San verbeugt und entfernt sich. Der Gastgeber öffnet die Fenstertür nach draußen. Dort liegen Platten aus Bambus unter denen eventuelles Regenwasser ablaufen kann, das dann in Tanks gesammelt wird, wie mir mein Gastgeber erklärt. Vor dem Geländer sind Pflanzkästen aufgestellt, in denen Zierpflanzen einen Bezug zur Natur herstellen. Ein weiterer Tisch, ähnlich dem im Wohnraum steht dort. Morishita-San nimmt vier Sitzkissen mit nach draußen und verteilt sie um den Tisch.

Nun bietet er mir Platz an und setzt sich mir gegenüber. Ich frage ihn nach der Rolle der Frau hier auf der Insel. Das Thema brennt mir schon die ganze Zeit ‚unter den Nägeln‘, seit ich heute Morgen erwacht bin.

... link (0 Kommentare)   ... comment