Donnerstag, 31. Dezember 2020
Yamato Nadeshiko -4-
„Solche Inseln sollen später an Investoren verkauft werden. Die wollen mit ihrem Geld aber auch wieder nur Profite erzielen!“ halte ich dagegen.

„Das ist richtig,“ bestätigt mein Vater. „Aber worin bestehen diese Gewinne? Insbesondere Menschen, die in Zukunft ihre Heimat verlieren, weil sie bei steigendem Meeresspiegel untergeht, werden darauf wohnen und Mieten zahlen. Davon gehen die Instandhaltungskosten ab, und was übrigbleibt ist der Profit. Das ist legitim, denke ich, wenn man Wucher unterbindet!“

„Hm,“ mache ich. „Dein Unternehmenskapital steckt nun also in der Insel. Deine Mitarbeiter sind die Bewohner. Du gibst Erfahrungs- und Zustandsberichte an die Werft weiter, so dass diese Firma ihr Produkt weiterentwickeln kann. Das ist also dein Beitrag zum Naturschutz?“

„Ja, ich arbeite daran mit, dass der Planet für künftige Generationen lebenswert bleibt. Diese Inseln sollen umweltschonend betrieben werden. Die Bewohner sollen weitgehend als Selbstversorger leben können. Kriege, wegen schwindendem Lebensraum, werden wir nicht verhindern können, aber wir zeigen eine Alternative auf.“

„Hm, ja, da hast du recht…“ gebe ich zu.

Wir schweigen uns eine Weile an. Inzwischen habe ich mein Essen beendet. Dann zeige ich auf den einzelnen Hocker, der jetzt an der Wand steht.

„Hat dieser einzelne Hocker eine besondere Bedeutung?“ frage ich neugierig.

„Wir sitzen im Normalfall auf der Erde, wie du weißt. Die besondere Bedeutung eines Hockers oder Stuhles besteht darin, dass der darauf Sitzende die Anderen überragt. Daher ist so eine Sitzgelegenheit in privaten Haushalten eher selten zu finden, denn er ist gewöhnlich für besondere Gäste reserviert, etwa für den Kanrisha –Ortsvorsteher- und die Jogen –Ratsherren-. Sie sitzen darauf höher und können die anderen Anwesenden überblicken. Normalerweise sitzen die Shi -Herren- auf den Kissen und damit in Bodennähe. Sie wollen ‚bodenständig‘ bleiben.“

Nachdem mein Vater nun geendet hat, erhebt er sich und verbeugt sich leicht. Er sagt noch:

„Oyasumi nasai -Gute Nacht-,“ dann geht er auf die Tür zu und ist kurz darauf verschwunden.

Mein Vater hat nichts davon gesagt, welche Bestimmung mich hier erwartet. Auch über sich selbst hat er nicht viel gesprochen, dabei will ich ihn unbedingt näher kennenlernen.

Die Informationen aber, die ich bekommen habe, verwirren mich so, dass ich kaum schlafen kann. Oder ist es der Jet-lag? Muss ich mich erst an den anderen Tag-Nacht-Rhythmus hier gewöhnen?

*

In den kommenden Wochen erhalte ich Unterricht von unterschiedlichen Lehrern. Der Shinto -Weg der Götter- ist eine uralte ethnische Religion der Japaner, der nur mündlich weitergegeben wird. Es ist eine animistische Naturreligion, deren Grundzüge mein Vater mir bei unserem ersten Zusammentreffen etwas eigenwillig erklärt hat. Sie bildet unser philosophisches Grundgerüst. Des Weiteren lerne ich die Feinheiten der japanischen Sprache und der Schrift.

In einem Gedicht lese ich etwas über die japanische Prachtnelke -Yamato Nadeshiko-. Ich frage meinen Vater, um welche Blume es sich handelt. Er lacht fröhlich und erklärt mir, dass es sich dabei um das Symbol des japanischen Frauenideals handelt. Da ich ihn nun etwas verdattert, aber interessiert anschaue, beginnt er:

„Ich beginne am besten ganz vorne: Unsere höchste Gottheit im Shinto ist Amatherasu, die Sonne, das weißt du, Masao-kun. Sie ist weiblich, obwohl die Gesellschaft wie du sie heute erlebst eher patriarchalisch aufgebaut ist. Manche Wissenschaftler gehen deshalb davon aus, dass die Gesellschaft früher einmal matriarchalisch organisiert war.
Irgendwann hat sich das Machtgefälle in der Gesellschaft allerdings gedreht. Ob es da einmal einen ‚Kampf‘ zwischen den Geschlechtern gegeben hat, den die Frauen verloren haben, ist Spekulation. Das lässt sich nach Jahrtausenden nicht mehr feststellen. Beschreiben wir also die heutige japanische Frau: Ihr vorherrschender Wesenszug ist es willensstark zu sein. Sie kann sich durchsetzen, wenn sie es muss. Ihr Schicksal erträgt sie unbewegt, auch wenn es mit psychischen oder physischen Schmerzen verbunden sein sollte.
Dabei ist sie nicht selbständig oder unabhängig, wie die westliche Frau. Sie tut alles für ihren Vater, später für ihren Chef oder ihren Mann. Sie ordnet sich gerne unter und bringt alle nötigen Opfer zum Wohlergehen und Schutz ihrer Familie oder Firma, bzw. Organisation. Familie, Firma oder Organisation ist ihr also wichtiger als ihre persönliche Entfaltung – im Gegensatz zur westlichen Frau.
Im Außenverhältnis kann eine Japanerin sich für ihren Herrn durchsetzen, während sie im Innenverhältnis seine Führung akzeptiert. Andere Männer respektieren das Symbol, das der Halsring darstellt, denn sonst würden sie in ein Innenverhältnis eingreifen, das ihnen nicht zusteht. Ihr Herr würde sich in seiner Ehre verletzt sehen und den Anderen zum Duell herausfordern.“

Mir fällt eine kurze Begegnung an meinem ersten Abend auf dieser ‚Insel des Bunrei‘ ein. Damals hat uns eine junge Japanerin bedient. Mein ehrenwerter Vater hat dabei gesagt, dass ich sie haben könnte. Verwirrt habe ich damals das Angebot abgelehnt. Zu einer japanischen Frau führt der Weg also nur über ihren Herrn.

Die junge Frau ist eine Meido -Magd- gewesen und das Band um ihren Hals, das ich für ein Schmuckstück gehalten habe, identifiziert ihren Herrn. Ein zweites Zeichen, ein Tattoo, ist unter ihrer Kleidung versteckt. Dieses kennzeichnet sie als Magd, genauso wie die Art ihrer Kleidung. Ich habe die junge Frau seither nicht wiedergesehen.

Neben den Gesprächen werde ich im Fechten ausgebildet, damit die japanischen Schwerter für mich keine Deko-Gegenstände mehr sind. Ich lerne das Führen des Katana -Langschwerts- und des Wakizashi -Kurzschwerts-. Beide Waffen hängen an der Wand in meinem Zimmer. Im Unterricht werden sie durch gleichlange Bambusstäbe ersetzt.

Außerdem erhalte ich Unterricht in der waffenlosen Selbstverteidigung Ju-Jutsu, weil dieser Kampfstil zum Einen Techniken aus verschiedenen Kampfsportarten kombiniert. Zum Anderen, erklärt mir mein Lehrer, machen Schüler hierin vergleichsweise schnelle Erfolge, weil weniger die Ästhetik, als vielmehr die Effektivität im Vordergrund steht. Schneller Erfolg ist das Stichwort! Mein Lehrer sagt mir, dass andere Schüler schon früh anfangen und mir daher in der Übung um Jahre voraus sind.

Ich werde besonders im Kodex der Samurai erzogen, schon weil mein Vater ein Nachfahre der alten Kriegerkaste ist. Der Kodex wird von Respekt und Ritterlichkeit bestimmt und unterstreicht die Loyalität gegenüber den Führenden und dem Bunrei. Es sind harte Regeln, aber sie kennen Rücksichtnahme, Verantwortung und Ehrenhaftigkeit.

Irgendwann werden meine Ruhepausen länger. Meine Ausbildung läuft zwar weiter, aber sie ist nicht mehr so dicht gedrängt. So habe ich mehr Zeit, mich auf der Insel umzusehen.

An diesem Tag interessiere ich mich für die Technik. Ich vertraue mich der Führung von Morishita-San an, der diese Abteilung leitet. Nachdem wir die Stromerzeugung besichtigt haben, kommt das Gespräch irgendwie auf den Meisai -Tarn-.

Ich frage den Ingenieur:

„Ich bin von einem kuriosen Fluggerät auf die Insel gebracht worden, das gut in einen James-Bond-Film passen würde. Können Sie mir mehr darüber erzählen?“

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