Dienstag, 29. Dezember 2020
Yamato Nadeshiko -3-
In diesem Moment öffnet sich die Tür und ein schon leicht ergrauter Mann betritt den Raum. Auch er trägt traditionelle japanische Kleidung, lächelt mich an und beugt seinen Kopf leicht. Stolz klingt in seiner Stimme mit, als er spricht:

„Aisatsu -Hallo-, Masao-kun, mein Sohn!“

„Konnichiwa -Guten Tag-,“ antworte ich höflich reserviert.

„Ich bin Tanaka Daisuke, dein Vater«, sagt er lächelnd und verbeugt sich noch einmal. „Ich habe vor vielen Jahren mit tiefer Bestürzung erfahren, dass deine Mutter während einer Notoperation verstorben ist. Sie war mir von allen die Liebste! Wie gern hätte ich euch beide nachgeholt, sobald die Zeit reif dafür gewesen wäre. Leider war uns das nicht vergönnt. Also habe ich dich in einem Internat untergebracht, um dich zu holen, sobald du soweit bist, meine rechte Hand zu werden.“

„Was ist damals geschehen, Vater?“ frage ich.

„Dein ehrenwerter Großvater hat mich zu sich geholt, um mich in seine Geschäfte einzuweihen. Sobald ich selbständig an seiner Seite hätte handeln können, hätte ich euch nachgeholt. Leider bekam deine Mutter schlimme Bauchschmerzen und musste sich einer Notoperation unterziehen. Sie hat die Operation leider nicht überlebt. Nun musste ich mich aus der Ferne um ein kleines Kind kümmern. Da griff ich nach einem Strohhalm und meldete dich auf dem Internat an.“

Mein Vater macht einen gedrückten Eindruck. Mitfühlend sage ich:

„Otou-San -Vater-, jetzt wird alles gut. Ich bin bei dir und habe dir etwas mitgebracht!“

Mich kurz umschauend, entdecke ich die Tüte auf dem niedrigen Tisch. Ich drücke sie ihm mit einer Verbeugung in die Hand, nachdem ich sie von dort geholt habe.

„Arigatou gozaimasu –Vielen Dank- für dein Geschenk, Masao-kun,“ sagt er und nimmt die Tüte entgegen.

„Wir haben inzwischen später Nachmittag,“ eröffnet er mir und meint: „Du musst bestimmt hungrig sein.“

„Die Umstände meiner Reise sind schon sehr geheimnisvoll!“ stelle ich fest. „Hätte es kein ganz normaler Linienflug sein können? Wo bin ich hier und was wird meine Aufgabe sein?“

„Ich erzähle es dir beim Essen, mein Sohn.“

Er klatscht in die Hände und die Tür öffnet sich erneut. Herein kommt eine junge Frau mit langen Haaren in meinem Alter. Sie trägt ein kurzes weit ausgestelltes Kleid mit weit ausgestellten Ärmeln. Ihre Beine stecken in einer grauen Strumpfhose und an den Füßen hat sie Zehensandalen. Um den Hals trägt sie ein silbernes Metallband als einziges Schmuckstück.

In ihren Händen trägt sie ein Tablett mit Geschirr, Schüsseln und einer Schale. Sie stellt alles auf den Tisch und arrangiert es vor den beiden Sitzplätzen. Danach verlässt sie uns mit schnellen Schritten, ohne ein Wort geäußert zu haben.

„Du kannst sie heute Abend haben, wenn du möchtest,“ sagt mein Vater, der meine Reaktion bei ihrem Eintritt bemerkt zu haben scheint.

Ich bin mir nicht sicher, was er meint und lehne daher höflich ab. Nun weist er auf den Tisch. Ich setze mich ihm gegenüber im Seiza -Kniesitz- auf das Kissen und nehme die Stäbchen in die Hand. Den Kniesitz habe ich auf Youtube Videos gesehen. Aber wie ich die Stäbchen benutzen soll, ist mir ein Rätsel. So etwas lernt man in Kanada nicht. Jedenfalls nicht in dem Internat, das ich besucht habe.

Mein Vater sieht meine erfolglosen Versuche. Anscheinend ist er der Meinung ‚Learning by doing‘ sei die richtige Methode. Er zeigt mir die Handhabung und ich schaffe es tatsächlich, einige der Brocken aus Fisch und Obst anzuheben. Ich beuge mich über meine Schale und habe das Essen schnell im Mund. Nun sehe ich, wie mein Vater seine Schale an den Mund setzt und die Brühe laut schlürfend trinkt.

Danach streckt er seinen Rücken gerade und schaut mich an. Während ich noch mit meiner Portion kämpfe, beginnt mein Vater zu erzählen.

„Diese Insel haben wir Bunrei no Shima –Insel der Bunrei- genannt.“

Er macht eine Gedankenpause, bevor er die Erklärung wieder aufnimmt.

„Die Bunrei-… Als wir die Insel gekauft haben, haben wir unter Aufsicht des Schreinpriesters unseres Heimatschreins Steine vom Gelände des Schreins genommen. Er hat um Mitternacht mit einer Zeremonie den Kami des Schreins gebeten, außer in der Shintai -Reliquie- des Schreins, auch diese Steine als Wohnsitz zu nehmen. So können wir sie als Bunrei auf der Insel verehren.
Der Bunrei ist unser Bindeglied zur Natur und den Kami, und Mittelpunkt verschiedener Zeremonien. So schwören wir in Gegenwart des Bunreis der Insel unserer Gemeinschaft die Treue. Wir ehren unsere Insel, indem wir sie für die nachfolgende Generation erhalten. Wir halten unserer Familie die Treue, indem wir dem Wort des Vaters folgen. Wir ehren den Gastgeber, wenn wir ein fremdes Haus betreten, indem wir in Frieden kommen. Der Bunrei in Form eines Steins nimmt eine herausragende Stellung in unserem Leben ein, aus Respekt vor der uns umgebenden Natur.“

„Jedem Lebewesen, jeder Pflanze, jedem Stein, jedem Naturereignis wohnt ein Kami inne. Kamis sind göttlicher Natur. In der westlichen Welt würde man ein Kami mit dem Begriff ‚Seele‘ gleichsetzen. Demnach glauben wir Japaner, die Natur und die Naturphänomene sind beseelt… Das habe ich einmal irgendwo gelesen!“ antworte ich.

„Beide Aussagen sind wahr und bedingen einander!“ stellt mein Vater lächelnd fest. „Diese Steine sind natürlich unterschiedlich geformt und gefärbt, und viele weisen Muster auf. Zwei Männer, die sich im Streit um einen Streifen guten Bodens umbringen würden, kämpfen Seite an Seite um den Bunrei ihrer Gemeinschaft zu schützen.
Mein Bunrei, den ich in meinen Räumen aufbewahre, wird ein Bett aus der Erde erhalten, die du mir mitgebracht hast. Es ist genug davon da, so dass du auch deinen Bunrei später in kanadischer Erde betten kannst.“

„Du sagtest eben, wir Japaner respektieren die Natur, das würde bedeuten, wir schützen die Natur… Wir kommt das auf einen Nenner mit den großen Industrieunternehmen und deren Raubbau an der Natur, um des Profites willen?“

„Ja, das ist ein großes Problem seit dem letzten Krieg und dem Aufstieg zu einer führenden Industrienation. Gleichzeitig schwindet der Einfluss des Shinto in der Bevölkerung. Man könnte sagen, die Technik hat die Japaner entwurzelt. Ich habe das schon vor Jahren gesehen und deinen ehrenwerten Großvater gebeten, sein Unternehmensziel in Respekt vor der Natur zu wählen. Das ist nicht leicht gewesen.
Nun hat mir ein treuer Freund den Tipp gegeben, dass in seinem Unternehmen der Prototyp einer künstlichen Insel fertiggestellt worden ist. Für eine Generalprobe, bevor man die Insel an Investoren verkaufen kann, fehlten Menschen. Ich habe nun unser Unternehmen verkauft und bin in Verhandlungen mit dem Unternehmen getreten. Meine früheren Mitarbeiter bilden nun die Test-Bevölkerung der Insel. Wir geben jährlich Beurteilungen an das andere Unternehmen. Dafür haben wir den Prototyp weit unter Marktpreis erhalten. Eventuelle Änderungen gehen nun natürlich zu unseren Kosten.“

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