Mittwoch, 17. Mai 2023
Der Mond leuchtet so schön -05-
Nun bin ich schon einige Monate auf der Universität. Hier herrscht eine völlig andere Atmosphäre als ich sie aus Nihon gewohnt bin. Es gibt hier keinen Gruppendruck, wie ich ihn während der Schulzeit in Nihon erfahren habe. Hier wird die Individualität groß geschrieben. Quasi jeder studiert für sich. Die angebotenen Tutorstunden kann man in Anspruch nehmen oder auch nicht. Dementsprechend gering ist der Zuspruch dort. Ich versuche also, mich in meine Bücher zu vergraben und die geforderten Referate und Abhandlungen zu schreiben.

Einer Eingebung spontan folgend habe ich mich bei einem chinesischen Kommilitonen gemeldet. Er bietet einen Karate-Kurs an. Dies, denke ich, ist der optimale Ausgleich zu dem theoretischen Studium mit der sitzenden Tätigkeit.

Außer mir besucht nur noch eine weitere Frau diesen Selbstverteidigungs-Kurs, neben dreizehn weiteren Männern. Allesamt sind es Europäer. Sie gehen mich im Training hart an, aber ich weiß mich zu behaupten. Eine nipponjin josei -japanische Frau- hat schließlich Krallen, die sie auszufahren weiß. Hier herrscht dagegen das Klischee vor, dass eine japanische Frau anschmiegsam sei. Eine andere asiatische Studentin in der Uni hat in den sozialen Medien resigniert geschrieben:

"I still feel like I've been objectified, exotified, and hypersexualized because of my race, and sometimes I have trouble trusting people who find me attractive because of that.
-Ich habe immer noch das Gefühl, aufgrund meiner Rasse objektifiziert, exotifiziert und hypersexualisiert worden zu sein, und manchmal habe ich Probleme, Leuten zu vertrauen, die mich deswegen attraktiv finden-."

Die Tendenz dazu besteht wirklich. Das kann ich nicht abstreiten. Aber man kann sich den Respekt der Mitstudenten zumindest erarbeiten, und innerhalb meines Selbstverteidigungs-Kurses bin ich bald akzeptiert.

Nach einigen Wochen fragt einer der männlichen Kommilitonen aus dem Kurs, ob wir uns nicht einmal zum gegenseitigen Kennenlernen privat treffen könnten. Er bietet an, drei Tische in einem Bowling-Center für einen Abend zu mieten. Da die Mehrheit dafür stimmt, sammelt er kurze Zeit darauf Geld von uns ein, um den Abend zu finanzieren.

An dem Termin gehe ich zu der Location und schaue mich darin um. Bald habe ich die drei Tische mit meinen Kommilitonen gefunden. Zehn aus unserer Karate-Gruppe sind anwesend, einige davon mit ihren Partnern. Einer erklärt mir, dass ich am Tresen Bowling-Schuhe leihen muss und will sich erheben, um mit mir dorthin zu gehen.

"Du weißt doch gar nicht, welche Schuhe für Frauen besser geeignet sind!" fährt ihm das andere weibliche Mitglied unserer Gruppe über den Mund.

Der junge Mann zieht eine enttäuschte Miene und setzt sich wieder, während sich die Sprecherin erhebt und mich zum Tresen führt. Unterwegs sagt sie zu mir:

"Lass' dir von den Männern nur nichts vormachen, Riko!"

"Vormachen... Wie meinst du das, Yvonne?" frage ich.

Im Deutschen haben viele Wörter verschiedene Bedeutungen, die sich erst aus dem Kontext erschließen. Deshalb habe ich bei Yvonne nachgefragt.

"Sie geben vor, etwas zu sein oder zu können, um Bewunderung zu erlangen. Im Grunde sind sie aber soo klein..." antwortet sie mir.

Dabei hält sie Daumen und Zeigefinger in kurzem Abstand zueinander, um ihren Satz zu untermalen.

Inzwischen haben wir die Ausgabe der Bowlingschuhe erreicht. Yvonne fragt, welche Schuhgröße ich habe. Ich sage unsicher:

"In meiner Heimat ist es JPN24. Ich weiß nicht, ob das hier die gleiche Größe ist."

... link (0 Kommentare)   ... comment