Dienstag, 2. Mai 2023
Hao Ling -45
Die Delegierte Lai Yi Ni liegt friedlich und reglos im offenen Sarg. Ihr schwarzes Haar umschmeichelt ihr blasses Gesicht, das wie schlafend wirkt. Ihre Augen sind geschlossen und ihre Hände gefaltet. Man hat ihr ihr Lieblingskleid aus ihrer Zeit als Königin der Deng angezogen.

Die Menschen ziehen in einer langen Prozession am Sarg vorbei, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Die Mönche der Palastwache brauchen nicht einzuschreiten. Es gibt keine Rangeleien. Auf dem ganzen Gebiet unseres Volkes gedenken die Menschen einer verehrten Königin, einer geachteten Delegierten. Sie hat uns in ihrer kurzen Lebenszeit gut gedient. In ihren Ämtern ist sie schnell weiser und erfahrener geworden. Jetzt ist ihre Zeit zu Ende gegangen.

Nach dem Staatsbegräbnis, dem ich als Zaungast beigewohnt habe, gehe ich nach Hause. Es gibt keinen anderen Ort mehr, wohin ich gehen könnte. Meine ehrenwerte Mutter öffnet mir stumm die Haustür, und ebenso stumm umarmt sie mich. Beim Essen fragt mich mein ehrenwerter Vater:

"Was wirst du ohne sie nun tun?"

Ich weiß es nicht. Alles ist so sinnlos. Die Deng haben eine Delegierte verloren, eine frühere Königin. Ich jedoch habe eine liebe Freundin verloren, für die ich in all den Jahren mein Leben riskiert hätte. Und jetzt gibt es sie nicht mehr. Meine Träume sind mit ihr dahin... Sind sie es? Ich weiß es nicht.

Wieder helfe ich meiner ehrenwerten Mutter im Garten, auch um mich von meiner Trauer abzulenken und etwas zu tun zu haben.

Es vergehen zwei Wochen auf diese Weise. Ein Bote bringt einen an mich adressierten Brief mit dem Siegel des Premierministers. Er lädt mich ein, an einer Sitzung im Palast teilzunehmen.

Neugierig lasse ich mich zum anberaumten Termin von einer Rikscha in den Palast fahren. Im Thronsaal finde ich am Konferenztisch Ihre Majestät, Seine Excellenz der Premierminister und den ehrenwerten Bu Men Chen.

Als ich den Thronsaal betrete, begrüßt mich Ihre Majestät und bietet mir an, am Tisch Platz zu nehmen. Ich verbeuge mich tief und setze mich auf den freien Platz neben dem ehrenwerten Chef der Palastwache.
Während nun junge Mönche mir Tee servieren, erhebt die Königin das Wort:

"Wir sitzen hier, um über das Projekt der ehrenwerten Delegierten Lai Yi Ni zu sprechen. Darf ich um ihre Stellungnahmen bitten, ehrenwerte Herren?"

Der Leiter des Klosters am Rande unserer Stadt, Bu Men Chen, berichtet nun über den aktuellen Stand des Projektes der verstorbenen Lai Yi Ni, ein Zweigkloster in der Gebi -Wüste Gobi- zu gründen und zu unterhalten. Er erklärt, dass die Erstausstattung mit Jurten wohl auf absehbare Zeit beibehalten werden muss, da die dortige Bevölkerung zu arm ist, über Spenden mit der Zeit einen festen Bau zu errichten. Die nomadisierenden Familien können sich weder Schulgeld leisten, um einen Teil ihrer Kinder von den Mönchen unterrichten zu lassen, noch Einnahmen über den Verkauf von Weberzeugnissen generieren.

Ihre Majestät dankt dem ehrenwerten Bu Men Chen und wendet sich an den Premierminister.

Dieser legt eine Berechnung seines Sekretärs für die Finanzen vor, was es die Deng kosten würde, Baumaterialien mit LKWs dorthin zu senden und einen Bus mit Bauarbeitern und Baugerät mitzuschicken und zu versorgen.

Nun schaut mich Ihre Majestät direkt an. Sie fragt:
"Ehrenwerte Wu Hao Ling, Sie haben die verehrte Delegierte Lai Yi Ni auf Schritt und Tritt begleitet. Ich habe gehört, dass Sie das Vermächtnis der verehrten Delegierten an ihren Kollegen in dem Ausschuss des Hohen Hauses, der sich mit der Problematik befasst, weitergegeben haben. Können Sie trotzdem aus dem Gedächtnis heraus eine Einschätzung abgeben?"

"Ja, Ihre Majestät," antworte ich und erkläre, dass sich ohne Vorleistungen unsererseits oder der Volksrepublik dort nichts ändern wird. Wollen wir das Vermächtnis der ehrenwerten Delegierten Lai Yi Ni nicht mit ihr begraben, müssen wir also die infrastrukturellen Voraussetzungen für das Gelingen selbst schaffen.

Im folgenden Gespräch erlebe ich ihre Majestät als Fürsprecherin der Nomaden in der Gebi. Aus dem Staatshaushalt der Deng und dem Spendenaufkommen unseres Klosters soll der Bau des Klosters in der Gebi bezahlt werden. Zusätzlich soll jede Familie dort eine junge Kamelstute und eine Handvoll Schafe erhalten, damit sie leichter an Wolle für ihre Webstühle kommen und seltener Wildtiere für den Eigenbedarf jagen müssen.

Gegen Ende des Gesprächs ernennt ihre Majestät mich zu ihrer persönlichen Beauftragten für das Projekt. Ich erhalte dafür ein Satellitentelefon, da es in meinem neuen Arbeitsgebiet keine Funkmasten gibt. Das Gerät funktioniert auch als mobiles WLAN, so dass ich mein Tablet nutzen kann.

Ihre Majestät steht auf dem Standpunkt, dass die Deng es ihrer früheren Königin und späteren Delegierten schuldig sind, das Projekt Ihrer Exzellenz weiter zu führen. Dies nimmt mich sehr für sie ein!

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