Dienstag, 23. Mai 2023
Der Mond leuchtet so schön -07-
"Japan ist ein fernes Land," versuche ich mich in Diplomatie.

"Das stimmt wohl," meint sie, "will aber nichts heißen. Schau mal, ich habe mir Noah so hingebogen. Wir kommen wunderbar miteinander klar. Das solltest du bei einem Mann auch tun!"

Ich lächele höflich und wedele mit der erhobenen Hand.

"Jeder so, wie er es mag, Yvonne. Ich bin auch liiert. So sagt man hier doch, glaube ich. Ich mag meinen Freund so wie er ist. Für ihn sind Verpflichtungen und Verantwortung etwas ganz Normales. Probleme im Alltag sind für ihn eine Herausforderung. Ganz besonders aber achtet und wertschätzt er mich als Person. Ich vertraue ihm völlig."

"Und du bist sicher, dass er nicht schauspielert - irgendwann die Maske fallen lässt, dich nimmt und dann fallen lässt wie eine heiße Kartoffel?"

"Du, da bin ich mir absolut sicher! Ich kann mich vertrauensvoll in seine Arme sinken lassen. Insoweit ist er sogar berechenbar."

"Wenn das stimmt, dann hast du ihn schnell in der Hand. Dann kannst du ihn lenken..." resümiert Yvonne.

"...wie du Noah lenkst über Gefühlsausbrüche und das Äußern von Wünschen?" stelle ich fest, freundlich lächelnd.

Noah sitzt dabei und beschäftigt sich intensiv mit dem Essen. Er tut so, als versteht er uns nicht.

"Ja, warum denn nicht. Man muss schließlich sehen, wo man bleibt im Leben!" antwortet mir Yvonne daraufhin.

"Da sind wir doch grundverschieden, Yvonne! Vielleicht rührt das von unserer unterschiedlichen Erziehung her."

Sie nickt und lässt das Thema auf sich beruhen. Wir reden noch über einige studentische Probleme, dann verabschiede ich mich von ihnen. Beim Weggehen lade ich beide aus Höflichkeit zu einem Gegenbesuch in mein Appartement ein.

Eine Woche später ist es an mir, meine Gäste zu bewirten. Pünktlich klingeln Yvonne und Noah an der Tür. Ich lasse sie ein und empfange sie in einem Yukata, einem leichten Hauskimono mit einem Druck, der aussieht wie ein Nihhonga -japanisches Gemälde- und mit ein paar Stickereien.

Beide grüßen mit "Hallo!" und zeigen sich beeindruckt von den Drucken an meinen Wänden. Ich erkläre ihnen das mit einfachen Worten:

"Dies ist für mich ein Rückzugsort, an dem ich Kraft schöpfen kann für den Alltag."

Dann bitte ich sie:
"Zieht bitte eure Straßenschuhe aus. Im Regal findet ihr sicher passende Hausschuhe... Ah, und wenn ihr zur Toilette müsst, wechselt an der Tür bitte in Badschuhe."

Yvonne kann nur mit dem Kopf nicken. Sie entledigen sich beide ihrer Straßenschuhe und probieren ein paar Pantoffeln an, bis sie passende gefunden haben. Dann zeige ich ihnen das Bad mit Toilette und führe sie in den Wohnraum. Yvonne schaut sich um und stellt lächelnd fest:

"Hübsch hast du es hier!"

Ich nicke dazu und meine:
"Wenn mein Freund nicht in meiner Nähe sein kann, will ich wenigstens durch Bilder aus Japan zur Ruhe kommen können."

Sie sieht ein großes Foto an der Wand und fragt:
"Ist er das?"

Ich nicke und frage sie:
"Welchen Eindruck macht er vom Foto her auf dich?"

... link (0 Kommentare)   ... comment