Dienstag, 26. Juli 2022
Aibou - Die Zofe -17
"Wollen wir einmal vor die Tür gehen? Ein kleiner Spaziergang täte deiner Gesundheit sicher auch gut, shin'aina chichi -lieber Papa-," sage ich und biete ihm meine Hand, damit er sich daran aus seinem Sitz hochziehen kann.

Er macht ein unwirsches Gesicht und wedelt mit der erhobenen Hand. Dann stützt er sich an der Tischkante ab und erhebt sich selbständig. Ich lächele in mich hinein.

Anschließend gehe ich zur Garderobe, ziehe meine Straßenschuhe an und helfe Papa, auf dem Boden hockend, in seine Straßenschuhe, während Mama sich ihre Straßenschuhe überstreift.

Danach öffnet Papa die Wohnungstür. Mama schließt sie hinter uns ab. Ich halte mich auf der Treppe neben Papa, eine Stufe tiefer als er, um ihn im Falle des Strauchelns auffangen und ihm sicheren Halt bieten zu können. Aber er bewältigt das Treppenhaus, gestützt auf Gehstock und Handlauf ganz passabel.

Nachdem wir vor die Haustür getreten sind und uns auf dem Bürgersteig befinden, versteift sich Papas Gestalt. Er macht nicht mehr den Eindruck eines Häufchens Elend, das bemuttert werden muss, sondern nun bewegt er sich selbstsicher, wenn auch auf 'drei Beinen' durch den Gehstock.

Es dauert nicht lange bis uns Bekannte begegnen, die Papa und uns höflich grüßen und zu verstehen geben, dass sie sich freuen, ihn wiederzusehen. Ich lenke Papa um die nächste Häuserecke, weil ich ihm nur einen 'Gang um den Block' zumuten möchte, merke aber bald, dass er den Gehstock kaum noch zum Abstützen benutzt. Er beginnt, ihn bei jedem Schritt nach vorne zu schlenkern, wie ich das in Charlie Chaplin Filmen der 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts gesehen habe. Darüber freue ich mich sehr.

Nach einer halben Stunde sind wir wieder am Haus angekommen, in dem die Wohnung meiner Eltern liegt. Ich frage meine liebe Mama:

"Hast du noch die Biwa -fünfsaitige Laute-, mit der du uns immer unterhalten hast, als ich noch ein Kind war?"

Mama schaut mich verständnislos an, nickt aber.

"Hai, Momoi-chan -Ja, Momoi-chan-. Ich muss sie nur wieder hervorholen. Sie muss gereinigt und gestimmt werden."

"Darf ich das für dich übernehmen, saiai no hahaoya -liebste Mutter-?"

"Was willst du denn damit, Momoi-chan?"

"Ich will euch selbstgemachte heimatliche Musik zu Ohren bringen, wie du früher."

Zurück in der Wohnung kramt Mama das Instrument hervor und übergibt es mir mit ehrfürchtigem Blick. Ich reinige es zuerst mit einem sanften Tuch und beginne dann, die Saiten zu stimmen. Meine Eltern sitzen dabei und hören gebannt zu. Sicher schauen sie auch kritisch, wie ich mit dem jahrzehntealten Musikinstrument umgehe, das Mama als Mädchen von der verehrten Großmutter erhalten hat.

Dann nehme ich das Plektrum in Form eines Ginkoblattes und beginne kurze Passagen zu proben. Schließlich stimme ich ein Lied an, von dem ich weiß, dass Beide, Papa und Mama, es mögen. Leider kann ich nicht gut singen, also begleite ich mein Spiel mit leisem Gesang. Mama fällt bald ein und so traue ich mich, auch etwas lauter zu singen. Ich freue mich, als ich höre wie Papa die Melodie mitsummt. So vergeht der Nachmittag.

Zum Abend hin helfe ich Mama in der Küche und nach dem Abendessen schauen wir gemeinsam einen Film im TV. Danach gehen wir zu Bett. Die Biwa darf ich in mein Zimmer mitnehmen. Sie erhält einen Ehrenplatz in einer Zimmerecke, wo man sie sofort sieht, wenn man das Zimmer betritt.

*

Nun bin ich schon ein dreiviertel Jahr wieder zurück bei meinen Eltern. In den vergangenen Monaten habe ich stolz miterleben können, wie der verehrte Papa neuen Lebensmut gefasst hat. Der Gehstock steht in einer hohen Vase in der Garderobe bei den Regenschirmen und verkümmert dort.

Ich habe die Biwa professionell stimmen lassen und ein tägliches Hauskonzert eingeführt, bei dem sich Papa und Mama wieder näher gekommen sind. Papa ist weniger jähzornig und mürrisch. Er achtet Mama und respektiert sie als Tsuma -Ehefrau-. Ja, ich kann manchmal sogar verstohlene Zärtlichkeiten beobachten.

Mama tanzt manches Mal für Papa, wenn ich musiziere. Das erste Mal ist es an Papas Geburtstag gewesen. Papas Augen hat man dabei richtig leuchten gesehen. Ich denke, dass beide in der darauffolgenden Nacht bestimmt wieder zärtlich zueinander geworden sind.

Die Geburtstagsfeier habe ich in einem Japan-Restaurant in der Düsseldorfer Innenstadt arrangiert und seine früheren Kollegen mit ihren Frauen dazu eingeladen. Die Moderation der Feier habe ich selbst übernommen. Dafür habe ich mir im Vorfeld einige Informationen über die Gäste und von diesen über Papa eingeholt.

Während der Feier lasse ich Papas Mitarbeiter und seinen früheren Chef Reden halten, in denen sie Anekdoten aus der Arbeit berichten und ihn loben. Papa ist den Abend über ganz gerührt. Ich muss ihn immer wieder durch meine Moderation aus gedanklichen Betrachtungen herausholen und mit Scherzen zum Lachen bringen. Schließlich bedankt er sich wortreich bei den Gästen und rührt mich zu Tränen, als sein Dank sich auch an mich richtet.

Anschließend klingt der Abend in einer leichten Plauderei aus und wird sicher für alle Anwesenden zu einem unvergesslichen Erlebnis. Vereinzelt bekomme ich sogar Angebote, die Moderation von Festen der anwesenden Gäste zu übernehmen. Ich sage bedingt zu, denn mein Arbeitsfeld sehe ich zuvorderst in der eigenen Familie. Als wohlerzogene Tochter ist mir das familiäre Klima zu allererst wichtig. Erst, wenn ich zuhause alles in Ordnung weiß, kann ich für einen Nachmittag einmal außerhäusig tätig werden.

Den lieben Papa animiere ich in der Folgezeit dazu, ein Buch über seine Arbeit als Küchenchef zu schreiben. Darin dürfen gerne Anekdoten zu lesen sein. Das Hauptaugenmerk soll er dabei aber auf selbst erprobte Rezepte legen und deren Vorteil in Sachen Gesundheit und Geschmack gegenüber ähnlichen Rezepten herausstellen. Auch wenn sich kein Verlag dafür interessiert, so sehe ich allein in der Tätigkeit eine Art Therapie für meinen rippana Otou-San -ehrenwerten Vater-.

*

Nachdem ich länger als ein Jahr zurück in Düsseldorf bin, will ich einmal ein Experiment wagen. Dazu suche ich im Internet nach Maid-Cafes. Leider gibt es in Düsseldorf nur ein Event-Cafe, das auf Cons besucht werden, oder man für Firmenfeiern mieten kann. Also muss ich nach Terminen von Veranstaltungen dieser Pop-Kultur suchen. Zufällig finde ich eine Telefonnummer des Veranstalters von Maid-Cafes und frage dort an, ob es während einer solchen 'Con' Zeiten im Tageslauf gibt, an denen weniger los ist.

Ich erkläre, dass ich in Japan langjährig als Gesellschafterin tätig gewesen bin und nun meine Eltern betreue, nach einem schweren Einschnitt in deren Leben. Meine verehrten Eltern möchte ich nicht zu sehr der Popkultur aussetzen und sie damit vielleicht schockieren. Andererseits möchte ich ihnen zeigen, wie es sein könnte, wenn sie in Japan von Dienstmädchen bedient werden.

Der Veranstaltungsmanager fragt nun ab, welche Vorstellungen ich denn habe. Ich beschreibe ihm einen Besuch im Restaurant auf der Bunrei no Shima. Man hört ihn am Telefon regelrecht lächeln. Er meint, ich solle mit meinen lieben Eltern gegen 13 Uhr kommen. Die Mittagszeit ist traditionell gering besucht und die Kaffeezeit beginnt erst später.

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