Sonntag, 24. Juli 2022
Aibou - Die Zofe -16
Die Herrschaft ist längst schon wieder nach Maizuru abgereist.

*

Die Arbeit als Lehrerin macht mir sehr viel Spaß. Ich bin inzwischen erst ein paar Jahre auf der Insel, insgesamt nun etwa ein Dutzend Jahre in Nihon -Japan-, als mich der Brief meiner lieben Mira -Mama- aus Düsseldorf-Niederkassel in Deutschland erreicht.
Meine Eltern sind damals, als ich schulreif wurde, nach Deutschland gekommen, weil mein ehrenwerter Papa -rippana chichi- eine Anstellung in einem japanischen Restaurant bekommen hat. Mit den Jahren hat er sich zum Chefkoch hocharbeiten können.

Freudig darüber, wieder einmal eine Nachricht meiner lieben Eltern -shin?ainaru Oya-San- zu erhalten, öffne ich den Umschlag. Nach den ersten Worten steigert sich meine Erregung und ich muss mich hinsetzen. Tränen füllen meine Augen, denn Mama hat schlechte Nachrichten für mich.

Sie schreibt mit zitterndem Stift, dass Papa einen Arbeitsunfall mit heißem Fett hatte. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Nun haben ihm die Ärzte verboten, weiter an seinem Arbeitsplatz zu arbeiten. Der verehrte Papa sitzt zuhause und macht Mama das Leben schwer. Nichts kann sie ihm recht machen.

Einen Moment bleibe ich auf meiner Couch sitzen. In mir reift ein Entschluss. Schließlich erhebe ich mich und gehe zu Tanaka-San, dem Sohn des Kanrisha -Ortsvorsteher- der Insel, meinem Arbeitgeber hier. Den Brief nehme ich mit. Ich klingele an seiner Tür. Kurz darauf öffnet seine Frau und sagt:

"Saikin dou -Was geht-, Youki-San?"

"Yoo -Hi-, Tanaka-San. Ich habe schlechte Nachrichten von meiner lieben Mutter..."

"Kommen Sie erst einmal herein, Youki-San!" meint sie und macht den Eingang frei.

Ich mache einen Schritt in die Wohnung und sage höflich:

"O-jama shimasu -Ich störe jetzt-."

Danach schlüpfe ich aus meinen Schuhen und in bereitstehende Pantoffel. Tanaka Moe führt mich in den Wohnraum und bittet mich, am Tisch Platz zu nehmen. Ich breite den Brief auf der Tischplatte aus, während sie in der Küche Tee für uns macht.

"Kann ich das Problem auch mit Ihnen besprechen?" frage ich.

"Aber natürlich," höre ich sie aus der Küche. "Tanaka-San wird von mir umgehend informiert! Ist es dringend?"

"Shinjitsude wanai -Nein, nicht wirklich," gebe ich zu. "Aber ich muss zurück nach Deutschland. Meine Mutter schickt mir da einen Hilferuf..."

Sie kommt mit einer Kanne und zwei Schälchen an den Tisch und kniet sich im Seiza -Kniesitz- mir gegenüber. Dann reicht sie mir ein Schälchen und füllt es mit Tee, bevor sie sich selbst ein Schälchen eingießt.

"Was ist geschehen?" fragt mich meine Freundin.

"Mein ehrenwerter Vater hatte einen Arbeitsunfall. Die Ärzte sagen, er könne nicht mehr in seinem Beruf arbeiten. Nun sitzt er griesgrämig zuhause. Meine liebe Mutter kann ihm nichts Recht machen..."

"Ah," sagt sie. "Und nun fragt Ihre ehrenwerte Mutter an, ob Sie sie nicht unterstützen könnten. Sie möchten also Ihre Tätigkeit hier beenden und zu Ihren rippana Oya-San -ehrenwerten Eltern- zurückkehren."

Ich nicke mehrmals lächelnd.
"Hai, hai, hai -Ja, ja, ja-!"

"Ihr Weggang wird jeder hier bedauern! Aber ebenso auch verstehen, Youki-San! Kommen Sie doch heute zum Abendessen zu uns. Sie sind herzlich eingeladen! Dann wird auch Tanaka-San anwesend sein."

Genauso mache ich es. Nach dem Tee gehe ich wieder in mein Appartement zurück und versuche mich durch Lesen abzulenken. Am Abend gehe ich noch einmal zur Wohnung von Tanaka-San und sage ihm, dass ich nicht mit ansehen kann, wie meine Mira -Mama- leidet. Aber auch mein shin?aina chichi -lieber Vater- leidet sicher unter der Situation. Ich als wohlerzogene Tochter muss unbedingt zu ihnen reisen und schauen, dass ich beiden das Leben wieder erträglicher machen kann.
Tanaka-San versteht meine Beweggründe. Er fragt mich:

"Haben Sie genug Geld für die Reise, Youki-San?"

Ich bestätige ihm das. In den vergangenen Jahren konnte ich genug Geld zurücklegen. Nun hilft er mir, eine Zugverbindung von Maizuru nach Kyoto herauszufinden und einen Flug nach Düsseldorf. Ich buche im Internet die entsprechenden Karten und verabschiede mich herzlich von den Freunden auf der Insel. Eine Rückkehroption lasse ich mir allerdings offen.

"Mata neeeeee -Auf Wiederseeeehn-! Viel Glück für die weite Heimreise!" höre ich vielstimmig bei der Abreise. Ich kämpfe mit den Tränen.

Dann fliege ich mit einem Hubschrauber von Tanaka-San bis in die Nähe des Hauptbahnhofs in Maizuru. Nun heißt es, trotz des Adrenalins in meinen Adern geduldig zu sein. Ein Tag dauert es noch, bis ich mit All Nippon Airlines in Düsseldorf lande.

Dort fahre ich mit der ÖPNV nach Düsseldorf-Niederkassel auf der linken Rheinseite und muss anschließend noch fünf Minuten zu Fuß gehen, bevor ich zuhause klingeln kann. Meine Mama öffnet die Tür und umarmt mich spontan. Sie bekommt vor Tränen kein Wort heraus. Mir geht es gerade ähnlich.

Von Gefühlen überwältigt schlüpfe ich stumm aus meinen Schuhen und in bereitstehende Pantoffeln. Mama wischt sich Freudentränen aus den Augen und führt mich in den Wohnraum. Papa sitzt im Sessel mit dem Rücken zu uns und schaut eine japanische TV-Show über Satellit. Neben sich hat er einen Beistelltisch und einen Gehstock aus schwarzem Holz. Auf dem Beistelltisch steht eine leere Schüssel.

In diesem Moment fasst er den Gehstock und klopft damit auf den Boden.

"Frau! Wo bleiben die Wasabi Nori -japanische Kartoffelchips-!"

Mama läuft in kurzen Trippelschritten in die Küche, um Papa mit Nachschub zufriedenzustellen. Ich mache ein paar Schritte vor, wende mich zu ihm um und gehe auf die Knie, um mich danach vor Papa tief zu verbeugen.

"Konnichiwa, shin?aina chichi -Guten Tag, lieber Papa-. Ich bin wieder zurück!"

Er ist einen Moment sprachlos. Dann beugt er sich vor und der Gehstock fällt polternd um.

"Momoi-chan!" kommt es heiser aus seinem Mund. "Schin?ainaru musume -liebe Tochter-."

"Wasabi Nori sind ungesund, rippana Chichi -ehrenwerter Vater-! Das weißt du selber. Lass dir von anata no aisuru tsuma -deiner lieben Frau- doch etwas Gesundes servieren!"

Er grummelt etwas Unverständliches.

Kurz darauf erhebt er sich. Ich reiche ihm seinen Gehstock und er geht zur Toilette. Ich schalte das TV aus und helfe Mama ein Essen zusammenzustellen und zum Esstisch zu bringen. Während wir arbeiten, kommt Papa ins Zimmer zurück und setzt sich auf seinen Platz am Tisch.

Beim anschließenden Essen muss ich von meinen Erlebnissen in Japan berichten, soweit ich meinen Eltern in der Vergangenheit noch nichts davon geschrieben habe. Ich tue es gern und erlebe dabei, dass auch Papa während meiner Erzählungen die Welt um sich zu vergessen scheint und an meinen Lippen hängt.

Nach dem Essen schenkt Mama Tee aus und stellt Gebäck hinzu.

Nachdem ich meinen Bericht beendet habe, rege ich einen Nachmittagsspaziergang zu Dritt an.

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