Sonntag, 2. Oktober 2022
Kaede, die Samurai -15
Ito-San zieht mich heran und küsst mich.

"Ich habe so lange gewartet!" flüstert er heiser.

Er streicht mir durch mein Haar und über meinen Nacken. Dies ist der Beginn eines neuen Lebens! Da bin ich mir sicher.

Nachdem wir Frauen alleine sind, bittet Murakami-San mich, ihr im Haushalt zu helfen. Mich lächelnd verbeugend, bestätige ich es ihr. Nach dem Frühstück beginne ich im Dachgeschoß mit dem Saubermachen. Ich betrete schäbige Räume, in denen es modrig riecht, und öffne zuerst alle Fenster, die zum Innenhof hinausgehen, um Durchzug zu erzeugen. Es wird sicher Tage brauchen, bis der Geruch sich verflüchtigt hat.

*

Zwei Wochen lebe ich nun schon bei der Witwe Murakami-San. Jeden dritten oder vierten Tag erhalte ich verstohlen Besuch von Ito-San. Ich fühle mich fast so wie in den letzten Wochen in Yoshicho, als ich von der Oka-San von der Außenwelt abgeschirmt worden bin.

Ito-San hält mich weitgehend auf dem Laufenden, was außerhalb des Anwesens geschieht. Heute Abend ist mein Kareshi to Danna -Freund und Gönner- sehr aufgeregt.

"Die Burg des Daimyo von Kano ist wieder zum Leben erwacht. Eine Kompanie Soldaten wurde dorthin entsandt. Du selbst bist noch nie dort gewesen und kennst die Lage der Fluchttunnel nicht?"

Ich schaue Ito-San erschrocken an. Mein Herzschlag scheint auszusetzen. Ich hebe die rechte Hand und wedele damit vor meinem Gesicht.

"Mein Platz ist immer in der Residenz gewesen!" presse ich zwischen den Lippen hervor und lehne mich in einem plötzlichen Schwächeanfall an ihn.

Ito-San hält mich und verspricht:
"Was auch immer passiert, ich werde dich vor allem und jedem beschützen! Aber wir müssen verhindern, dass der Daimyo die Flucht ergreift und infolge das junge Staatsgebilde sabotiert und destabilisiert.
Fühlst du dich in der Lage, mich nach Kano zu begleiten?"

Ich atme tief ein und schaue Ito-San offen an.

"Hai! Hai! -Ja! Ja!" antworte ich und versteife mich.

Ito-San lässt eine Droschke vorfahren, eine leichte zweirädrige Kutsche von einem Pferd gezogen. Ich soll einsteigen, bietet er mir an. Kurz bleibt mein Blick an den edlen Linien des Zugpferdes hängen. Das ist KEIN Kutschgaul! Dieses Pferd ist Geschwindigkeit gewohnt.

Ich ziehe den besten Kimono an, den ich besitze. Es ist der Kimono, indem ich vor langer Zeit aus der Residenz vor den Soldaten geflüchtet bin. Auch habe ich mein Naginata -Schwertlanze- bei mir und den Dolch in meinem Obi. Ito-Sans Ausrüstung besteht aus einem Katana -Langschwert- und dem Wakizachi -Kurzschert-, die er beide nach Art der Samurai auf den Rücken geschnallt hat. Daneben hat er einen Bogen und einen Köcher voll Pfeile in seiner Ausrüstung. In seinem Gürtel steckt einer dieser neuartigen Handfeuerwaffen.

Ito-San lässt das Pferd im Schritt Tokyo verlassen. Außerhalb der Stadt beschleunigt er die Gangart des Pferdes. Die Landschaft fliegt geradezu an mir vorbei und Tokyo ist bald nur noch ein dunkler Strich am Horizont.

Am Abend sind wir nach 12 Stunden Fahrt und zwei Stunden Pause am Ziel. Ito-San gibt das Gespann in einen Stall und mietet für die Nacht eine Box.

Anschließend nähern wir uns der Burg des Daimyo von Kano. In mir fühle ich widerstreitende Gefühle, bin ich doch einmal die Frau des Daimyo gewesen. Dann vergegenwärtige ich mir aber, wie mein Ehemann mich behandelt hat und vergleiche sein Verhalten mit dem des Ito-San.

Sogleich entscheide ich mich für das Unternehmen meines Kareshi to Danna. Ich werde der Lockvogel sein, der den Daimyo solange bindet bis Ito-San ihn zur Strecke gebracht hat. Die Männer des Daimyo sollen von den Soldaten beschäftigt werden, so dass sie nicht eingreifen. Anschließend fahren wir nach Tokyo zurück, wo Ito-San mich im Shokonsha-Schrein heiraten und in die neue Tokyoter Gesellschaft einführen will.

*

Wir stehen endlich vor den Mauern der Burg. Ito-San wartet Mitternacht ab. Auf der Rückseite der Burg spannt er seinen Bogen und schießt einen Pfeil dicht an der Fassade hoch. An dem Pfeil hat er eine lange dünne Schnur befestigt. Nachdem der Pfeil in einigen Metern Entfernung den Boden wieder erreicht hat, prüft er, ob die Schnur über einem Balken des Fachwerks oberhalb der Mauer liegt.

Nun zieht er mit der Schnur ein Tau über diesen Balken und klettert daran hoch. Er stellt sich auf den Balken und schneidet das Reispapier eines Fensters auf. Nachdem er hineingeklettert ist, zieht er das Tau hoch. Wenige Minuten später kommt das Tau wieder bei mir an. Alle zwei Shaku -ca. 60cm- hat Ito-San schnell eine Schlaufe für meinen Fuß gebunden. Ich ziehe probeweise am Tau und beginne dann meinen Aufstieg.

Kurz darauf stehe ich neben Ito-San, der das Tau nun wieder hochzieht und unter einigen herumliegenden Sachen versteckt, im Ooku, dem hinteren Bereich der Burg, der nur den Frauen vorbehalten ist. Zur Zeit befindet sich niemand hier.

Dann umgehen wir den Küchenbereich und steigen eine Etage höher, wo sich der Ohiroma -Saal- befindet. Wie aus Yoshicho gewohnt, steigen mir nun Gerüche in die Nase. Musik und Männergesang ertönt.

Plötzlich ein Alarmruf. Die Soldaten des Tenno haben die Burg umstellt und schießen Brandpfeile gegen das Fachwerk. Eine befehlsgewohnte Stimme ertönt und teilt die Männer zur Verteidigung ein. Mich überkommt ein Zittern. Ich erkenne die Stimme meines Herrn und Ehemanns.

Obwohl ich die Naginata hier nicht gut schwingen kann, bereite ich mich auf den Einsatz meiner Schwertlanze vor. Wir nähern uns weiter dem Saal.

Plötzlich stehe ich meinem Herrn gegenüber, der uns in den Frauenbereich entgegenkommt, eine Öllampe in der Hand haltend. Im flackernden Schein der Flamme sieht er zum Fürchten aus.

Ohne etwas dagegen tun zu können, knicken meine Beine ab und ich falle vor ihm auf die Knie. Die Naginata rutscht mir aus der kraftlosen Hand.

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