Donnerstag, 29. September 2022
Kaede, die Samurai -14
Mit knisternder Schleppe gleite ich von der Bühne herunter und knie mich vor ihn hin. Ich nehme eine große, mit Sake gefüllte Schale, verbeuge mich danach tief vor ihm und biete sie ihm beidhändig dar.

Die Maikos haben wieder begonnen zu tanzen. Ich beuge mich Fujimoto-Sensei entgegen und rüge ihn spielerisch:

"Wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt? War Ihre Arbeit so wichtig, dass Sie mich nicht ein einziges Mal besuchen konnten?"

Ich forme einen Schmollmund und ergänze:
"Ich glaubte schon, dass Sie mich nicht mehr mögen."

Er wedelt mit seinem Fächer und entgegnet lächelnd:
"Ich kann es kaum erwarten, wenn das hier vorbei ist. Ich sehe dir an, wie sehr du unartige Spiele magst!"

Während der nun folgenden Vorführung des Chefkochs und zweien seiner Küchenjungen trinkt Fujimoto-Sensei einen Sake nach dem Anderen und gibt auch mir zu trinken. Ich kippe den Sake jedesmal heimlich aus. Heute Abend gilt es nüchtern zu bleiben!

Plötzlich werden mehrere Türen an allen vier Wänden aufgeschoben. Der Raum füllt sich mit uniformierten Männern. Vereinzelt treffen sie auf Widerstand. Aber die alkoholisierten Gäste sind schnell überwältigt. Fujimoto-Sensei hat plötzlich eine Handfeuerwaffe in der Hand. Ein Schuss ertönt, oder sind es zwei? Es hört sich an, als ob ein Schuss und sein Echo zu hören sind. Erschreckt lasse ich mich zu Boden fallen.

Kurz darauf kniet Ito-San neben mir und fragt, wie es mir geht. Ich lächele zu ihm auf. Mehr ist mir in diesem Moment nicht möglich. Ito-San hilft mir auf. Ich sehe, dass Fujimoto-San an seiner Hand verletzt ist. Die Handfeuerwaffe liegt vor ihm. Vier Soldaten bemühen sich um ihn.

Ito-San führt mich durch die Gäste nach draußen auf die umlaufende Veranda, vorbei an einer dichten Mauer von Soldaten, die mir und Ito-San rechts und links ihre Rücken zukehren und so eine Gasse bilden, uns gegen mögliche Angriffe der Gäste absichernd.

Auf der Veranda ziehe ich den obersten kostbaren Kimono aus und öffne mein Haar. Die kostbaren Haarnadeln und -kämme lasse ich auf die Seide am Boden fallen und lasse mich von Ito-San durch die dunklen Gassen in einem Bogen zum Tor von Yoshicho führen.

Unterwegs entdecke ich zwischen zwei Regentüren eine Naginata -Schwertlanze- in einer Fassung stecken. Ich bleibe stehen und zerstöre die Fassung mit meinem Dolch. Anschließend wiege ich die Lanze in meinen Händen. Meine Miene hellt sich auf. Niemand wird uns jetzt noch aufhalten können. Sollten wir uns verteidigen müssen, bin ich Ito-San keine Last, sondern kann ihm helfen.

Ito-San ist stehengeblieben. Sein Gesicht zeigt zuerst eine ärgerliche Miene. Aber als er sieht, wie ich mit der Waffe umgehe, entspannt sich sein Gesichtsausdruck wieder und macht einem Lächeln Platz.

*

Die Torwachen hat man wohl fortgeschickt, denn drei Soldaten stehen dort und halten uns auf. Ito-San weist sich aus und wir verlassen Yoshicho. Ein Gefühl der Erleichterung macht sich in mir breit. Draußen stehen mehrere Ochsengespanne, die Käfige ziehen sollen. In einigen davon befinden sich halb entkleidete Männer, deren Arme und Oberkörper mit Tätowierungen übersäht sind.

Ito-San führt mich zu einer Rikscha. Wir steigen auf und Ito-San gibt dem Rikschafahrer als Ziel 'Tokyo' an. 'Nördliche Hauptstadt', so heißt Edo ab jetzt!

Als der Morgen allmählich zu dämmern beginnt erreichen wir die große Stadt. Wieder muss sich Ito-San am Tor ausweisen. Dann dürfen wir passieren.

"Die Residenz des Daimyo von Kano ist niedergebrannt, wie viele andere Residenzen auch," bemerkt Ito-San beiläufig. "Die Feuerwehr hatte alle Hände voll zu tun, die Feuer nicht auf die Nachbarhäuser übergreifen zu lassen. Ich kann mit dir leider nicht zum Haus meines Vaters oder eines seiner Brüder kommen. Du bist zu bekannt! Ich werde dich der Witwe eines Kameraden anvertrauen. Ich fürchte, die Unterkunft wird sehr einfach sein, gegenüber der in Yoshicho."

Ich lache leise auf.

"Bevor ich nach Yoshicho kam, habe ich mich nicht vom normalen Volk unterschieden. Den größten Teil meines Lebens habe ich ohne erlesene Speisen und Gewänder zugebracht!"

Während meiner Antwort sickert mir tröpfchenweise die Ungeheuerlichkeit meiner Tat ins Bewusstsein. Ein Gefühl der Angst will sich in mir breit machen. Ich fasse die Lanze fester. Ito-San hat mir aus der Rikscha geholfen. Den Rest des Weges führt er mich zu Fuß.
Nach einer Wanderung entlang der Häuserschatten, erreichen wir fast eine halbe Stunde später ein bescheidenes Haus. Ito-San klopft einmal, zweimal und noch einmal. Die Eingangstür wird vorsichtig aufgeschoben.

"Ohayo gozaimasu, Murakami-San," begrüßt Ito-San die Frau im Schatten.

Sie verbeugt sich ebenfalls und macht einen Schritt zurück. Wir betreten das Haus.

"O-jama shimasu -Ich störe jetzt-," sagt Ito-San laut und beginnt, sich die Schuhe auszuziehen.

Auch ich schlüpfe aus meinen Getas. Wir wechseln in Pantoffeln und wenden uns dann der Hausherrin zu. Ich darf mich in einer kleinen Kammer abschminken und mein Haar zu einem Zopf flechten, den ich am Hinterkopf zu einem Dutt drehe. Die Moe-San hat aufgehört zu existieren. Nun bin ich wieder Kaede, eine Entwurzelte.

Sie bittet uns in den Hauptraum und tischt uns Frühstück auf. Ito-San bespricht mit ihr das weitere Vorgehen, bevor er sich von mir verabschiedet. In Yoshicho hat Ito-San zur Tarnung einen Dienstboten gespielt. Auch er ist nun wieder er selbst. Er wirkt älter auf mich, ernster. Wenn er spricht, schwingt Autorität in seiner Stimme mit. Es ist allerdings eine Nuance anders als die Autorität, die mein Ehemann und Herr ausgestrahlt hat. Dieser ist kompromisslos gewesen, ein Macho eben. Ito-San zeigt Respekt und Ehrerbietung. Das finde ich anziehend.

Als er sich von mir verabschiedet, erkenne ich im Licht der Kerze sein Lächeln und die liebevollen Augen. Voller Sehnsucht beuge ich mich ihm entgegen, als ob ich alle Willenskraft verloren hätte. Er nimmt meine Hand und führt sie an seine Lippen. Ich schließe die Augen und horche nach innen auf meine Gefühle. In Yoshicho ist alles ein Spiel gewesen. Eine Geisha fühlt nichts. Sie ist eine Künstlerin der dahinströmenden Welt. Langsam wird mir bewusst, wieviel ich in all der Zeit hinter der Maske verborgen habe.

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