Sonntag, 11. September 2022
Kaede, die Samurai -08
Auf meinem Rückweg komme ich beim Haus meiner Haarkünstlerin vorbei. Ich denke, auf ein Schwätzchen kann ich sicher zu ihr gehen, schauen wie es ihr geht und sie ein wenig aufmuntern. Also gehe ich auf den Eingang zu und versuche, wie so oft, ihn aufzuschieben. Doch diesmal ist die Tür verschlossen. Verblüfft halte ich inne. Niemand sonst verschließt im Yoshicho eine Tür. Ich versuche es erneut und überlege, ob sie vielleicht klemmt. Ich rüttele stärker daran.

Dabei rufe ich: "Umeko-San, bist du da?"

Nun nähern sich Schritte, etwas Schweres wird zur Seite geschoben und die Tür öffnet sich einen Spaltbreit. Erleichtert frage ich:

"Alles in Ordnung? Hast du geschlafen?"

Ich öffne die Tür gerade soweit, dass ich hindurch schlüpfen kann. Drinnen empfängt mich feuchte Luft, wie in einem Badehaus. Hat sie etwa auch die Regentüren zugezogen? Außerdem ist alles dunkel. Ich bin verwirrt.

Plötzlich packen mich zwei Hände, wirbeln mich herum und stoßen mich weg. Erschrocken schreie ich auf. Ich taumele vorwärts, versuche mich abzufangen, reiße dabei das Schuhregal polternd um und falle hin.

Die Tür wird wieder zugeschoben und verriegelt. Ich drehe mich zu den Geräuschen um und erkenne einen Schatten im Raum. Mein Herz klopft und meine Gedanken spielen verrückt. Ich rutsche rückwärts bis ich eine Wand spüre.

'Das muss ein Einbrecher sein,' denke ich. 'Er hat Umeko-San getötet und jetzt sitze ich hier in der Falle.'

Ich spüre, dass die Gestalt sich mir nähert und versuche zu schreien. Aber schon legt sich mir eine riesige Hand auf den Mund und erstickt jeden Ton. Er hebt mich auf die Knie, die Hand immer noch fest auf meinem Mund.

'Mein Dolch!' flammt ein Gedanke in meinem Kopf auf.

Schnell habe ich die Waffe aus dem Obi gezogen und fahre damit durch die Luft.

"Ahh!" brüllt der Mann und zieht scharf die Luft ein.

Ein Faustschlag und mir entgleitet der Dolch. Wieder fasst er zu und legt seine Hand auf meinen Mund.

"Hab bitte keine Angst!" flüstert er. "Bitte schrei nicht."

Ich nicke geschockt. Er löst seinen Griff.

"Wo ist Umeko-San? Was hast du mit ihr gemacht?" frage ich flüsternd.

"Sie ist bald wieder hier," antwortet er. "Ich bin ein... Besucher."

Er kniet sich mir gegenüber und zerreißt seine Kleidung, um den Stoff auf die Wunde zu drücken. Da wird geklopft, einmal, zweimal.

Der Mann erhebt sich und öffnet die Tür. Umeko-San kommt hereingetrippelt, ein Bündel in jeder Hand.

"Puh, hier bekommt man ja keine Luft!" ruft sie, legt die Bündel ab, schlägt den Fächer auf und fächelt sich heftig frische Luft zu. "Du musst ja fasst erstickt sein, Liebster! Moe-San, bist du das?"

Der Mann schiebt die Regentüren zurück, stößt dabei gegen den Dolch am Boden, hebt ihn auf und gibt ihn mir zurück. Zu Umeko-San sagt er:

"Sie hat Krallen! Hast du Alkohol und Verbände?"

Umeko-San nickt und läuft aus dem Zimmer, um wenig später mit Stoff und einem Krug Sake zurückzukommen. Sie lacht als sie seine Wunde nun desinfiziert.

"Ja, Moe-San hat Krallen! Sie ist eine Samurai!"

Er schaut zu mir. Ich knie immer noch an der gleichen Stelle. Nun verbeuge ich mich tief, um sie mit "Konnichiwa" zu begrüßen. Umeko-San öffnet die Bündel und holt in Bambusblätter gewickelte Lebensmittel heraus. Ich beginne damit, mein Haar zu richten. Anschließend gehe ich zu einer Truhe und hole Tabletts, Stäbchen und Gewürze heraus.

Wir richten die Speisen an und beginnen zu essen. Dabei bedient sie den Gaijin und drängt sich an ihn. An mich gerichtet sagt sie sehnsuchtsvoll leise:

"Ich habe ihn so sehr vermisst!"

Aus der Ferne vernehmen wir das Schlagen der Glocke. Das Blut weicht mir aus dem Gesicht.

"Ich dachte nicht, dass es schon so spät ist," sage ich. "Ich wollte mit dir sprechen, Umeko-San. Nun ist keine Zeit mehr."

Ich verbeuge mich zum Abschied und trete auf die Straße hinaus. Draußen eile ich die Hauptstraße entlang zu meiner Okiya. In einer Hand den Sonnenschirm und mit der anderen Hand halte ich den Saum meines Gewandes.

Das kurze Erlebnis eben hat mich tief berührt. Noch nie habe ich erlebt, dass ein Mann eine Frau so behandelt, wie der Gaijin Umeko-San behandelt hat, so voller Zuneigung und Zärtlichkeit. Für meinen Ehemann bin ich ein Besitzstück gewesen und für meine Kunden bin ich kaum mehr als ein Spielzeug.

Ich will gerade durch die Vorhänge an der Tür zum Okiya schlüpfen, da stehe ich vor der Oka-San.

"Warum kommst du heute so spät?" fragt sie mit ärgerlichem Gesicht. "Du weißt doch, wie wichtig dieser Tag ist! Geh rein und mach dich fertig."

Ich verbeuge mich entschuldigend und eile die Treppe hinauf in das Zimmer der One-San. Sie steht wartend in der offenen Schiebetür.

"Beeil dich, Moe-San, beeil dich!" sagt sie. "Jeden Moment kann der Herr im Chrysanthemen-Teehaus eintreffen!"

Seit Tagen spricht ganz Yoshicho von Fujimoto-Sensei. Er soll reich und mächtig sein. Schnell knie ich mich vor den Spiegel und schminke mich ab. Anschließend trage ich die Grundierung auf und dann die weiße Paste. Nun nehme ich mit einem Pinsel Lippenrot auf und gebe auch etwas Rot in die Augenwinkel. Die Dienerinnen haben währenddessen mein Haar zu der Marumage-Frisur aufgetürmt und mit Haarnadeln und -kämmen geschmückt.

Danach erhebe ich mich und schlüpfe nacheinander in verschiedene seidene Kimonos, die mir die Dienerinnen hinhalten. Der Obi besteht aus Brokat mit aufwendigen Stickereien. Als ich mich nun wieder zum Spiegel umwende, habe ich mich in Moe-San, die Zauberin, verwandelt. Nichts erinnert mehr an Kaede -Ahornblatt-.

Als Fujimoto-Senseis Ankunft näher rückt, huscht die Mutter herein, mustert mich von Kopf bis Fuß und zupft die Kimonokragen zurecht. Dann treibt sie uns zur Eile an. Wenige Augenblicke später befinden wir uns auf der Straße. Neben mir geht Mamiko, die One-San und meine ältere Schwester. Sie wird heute die Shamisen spielen. Die Dienerinnen, die uns umringen, werden Flöte und Trommel spielen. Außerdem ist ihre Aufgabe, mich zu beobachten, um daraus für sich selbst zu lernen.

Bald haben wir das Chrysanthemen-Teehaus erreicht. Die Besitzerin kommt uns entgegen. Sie ist aufgeregt und lotst uns hinein. An einem Tisch sitzt ein Mann in teurer Kleidung, umgeben von Lakaien. Die One-San und ich gehen auf die Knie, beugen sich tief zu Boden und sagen im Chor:

"Konbanwa, Okyaku-Sama -Guten Abend, hoher Herr-."

Der Mann wendet sich ein wenig um und meint:
"Ihr kommt spät!"

Die Tischplatte biegt sich unter den erlesensten Speisen. Wir befinden uns hier in einem separaten Raum. Er ist verschwenderisch dekoriert worden, viel üppiger als es in der Residenz eines Daimyo aussieht. Ich atme tief durch und zwinge mich zur Ruhe. Fujimoto-Sensei ist hinter seiner Fassade auch nur ein Mann, sage ich mir.

Während die One-San und die Dienerinnen ihre Plätze an der Wand einnehmen, gehe ich um den Tisch herum zu einer Feuerschale, in der Holzkohle glimmt. Darüber hängt der Kama -Wasserkessel- für die nun folgende Shadou -Teezeremonie-.

Ich nehme Wasser mit einem Schöpflöffel heraus und übergieße den Tee in einer Kanne. Nach einigen Minuten gieße ich daraus etwas Tee in eine Schale mit kostbarer Glasur. Mit einer tiefen Verbeugung reiche ich sie dem hohen Gast. Er nimmt einen Schluck und reicht die Schale weiter. Als sie leer ist, kommt sie wieder zu mir zurück. Anschließend fülle ich für jeden Gast am Tisch eine Tasse, fülle die Kanne wieder neu und erhebe mich, um den Fächertanz vorzuführen, bei dem mich die Anderen mit ihrer Musik begleiten. Fujimoto-Sensei und seine Begleiter leeren derweil die Schüsseln mit den erlesenen Speisen auf dem Tisch.

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