Sonntag, 24. Januar 2021
Yamato Nadeshiko -16-
Während der Pilot die Motoren startet, checken wir den Helm. Die Kommunikation funktioniert. Dann hebt der Quadrokopter ab. Entgegen meiner Erwartung fliegt er aber nur höchstens hundert Meter weit. Er senkt sich hinter der Spuntwand in ein Hafenbecken, um in eine passgenaue Öffnung eines schnittigen Schnellbootes einzutauchen.

Meine beiden Begleiter verlassen das Cockpit und entfernen die Mantelschrauben, um sie in Stauräumen im Heck unterzubringen. Danach setzen sie sich wieder auf ihre Plätze. Der Pilot tippt einige Passwörter auf ein Display. Der Monitor zeigt nun einen Punkt, der schnell größer wird, zu einem Kreis wird und die Grenzen des Monitors erreicht. Dies wiederholt sich mehrfach. Dann piepst es. Der Pilot bewegt das Boot langsam aus dem Hafenbecken heraus.

Draußen beschleunigt der Pilot arg. Dabei nimmt er Kurs auf den Pazifik hinaus. Als das Boot eine gewisse Geschwindigkeit erreicht zu haben scheint, zieht er das Steuer an sich heran. Sofort zieht das Boot in einem irren Winkel nach oben. Nach wenigen Minuten kippt er das Fluggerät in die Waagerechte zurück.

Während des Aufstieges bin ich in den Sitz gedrückt worden und zu überrascht gewesen, um nachzufragen.

„Sumimasen, -Entschuldigung-, was ist das?“ frage ich jetzt erstaunt.

Morishita-San wendet seinen Kopf zu mir um und antwortet lächelnd:

„Der Meisai -Tarn- ermöglicht es uns, in etwa einer Viertelstunde am Ziel zu sein.“

„Tarn…?“ frage ich atemlos.

„Hai -Ja-, es ist ein Kombigerät, das auf Radarschirmen kaum zu erkennen ist. Außerdem kann man das Gerät in kleinen Höhlen verstecken… So, als wäre es von Q für den Agenten Ihrer Majestät entwickelt worden,“ erklärt er stolz. „Wir haben die Konstruktionspläne zwar an die Amatsuka Werft Corporation verkauft. Die Werft kann nun den Quadrokopter mit dem Speedboot an jeden Verbraucher verkaufen, der das nötige Geld aufbringt. Nur die letzte Funktion mittels eines Strahltriebwerks fehlt diesen Maschinen.“

„Ah,“ sage ich und hebe den Kopf etwas an.

Wenige Minuten später lässt der Pilot die Maschine sinken und setzt auf der Meeresoberfläche auf. Das Wasser bremst die Geschwindigkeit stark ab, wobei die Gischt hochspritzt. Danach nähern wir uns einer weißen Wand mit vielen dunklen Vierecken im oberen Bereich. Die Wand besitzt in ihrer Mitte, direkt über der Wasseroberfläche, eine Öffnung.

Vor dieser Öffnung vollführt der Pilot mit dem Tarn eine halbe Pirouette im Wasser, um dann rückwärts ‚einzuparken‘. Der Hangar schließt sich und Morishita-San öffnet das Cockpit. Er steigt aus und hilft mir beim Verlassen des kuriosen Fluggerätes. Als Letzter steigt der Pilot aus. Danach verabschiedet sich der Pilot und Morishita-San verbeugt sich höflich.

„Darf ich Sie bitten, mir zu folgen, ehrenwerter Schmidt-San?“ fragt er und setzt sich in Bewegung. Ich schaue auf meine Armbanduhr und sehe, dass wir gerade erst kurz nach halb acht Uhr abends haben.

Wir nutzen einen Aufzug, der eine höhere Geschwindigkeit erreicht, als ich von Deutschland gewohnt bin. Allerdings bremst er auch schon weit vor dem Ziel sanft ab. Im 15. Stockwerk verlassen wir die Kabine und Morishita-San führt mich einen Gang entlang. An einer Tür bleibt er stehen und drückt eine Klingel. Kurz darauf öffnet uns ein junger Mann Anfang Zwanzig.

Mein Begleiter verbeugt sich leicht und sagt lächelnd:
„Dozo yoroshiku -Ich bitte um Ihre Freundlichkeit-. Schmidt-San ist soeben eingetroffen.“

Der junge Mann wendet sich mir zu und verbeugt sich lächelnd.

„Irasshaimase, Schmidt-San. Hajimemashite. -Willkommen, Herr Schmidt. Schön, Sie zu sehen.“

Er tritt etwas zur Seite und gibt mit einer Handbewegung den Eingang frei. Dabei sagt er:

„Tanaka Masao to iimasu -Mein Name ist Masao Tanaka.“

Ich trete ein und sage dabei:
„O-jama shimasu -Ich störe jetzt-.“

Nun streife ich meine Schuhe ab und stelle sie mit den Zehen in Richtung Tür in ein Schuhregal. Danach schlüpfe ich in ein Paar Pantoffeln und mache Morishita-San, meinem Begleiter, Platz. Ich wende mich wieder an den Wohnungsinhaber und stelle mich höflich vor:

„Dozo yoroshiku -Ich bitte um Ihre Freundlichkeit-. Schmidt Harold to moshimasu -Mein Name ist Harold Schmidt-. Watashi wa doitsujin desu -Ich bin Deutscher-.“

Tanaka-San lächelt und führt mich in den Wohnraum. Er sagt:

„Kochira e douzo -Bitte setzen Sie sich-,“ und weist auf den niedrigen Tisch.

Wir lassen uns daran im Seiza -Kniesitz- nieder und Tanaka-San klatscht kurz in die Hand. Eine junge Frau, etwa im gleichen Alter, in einem kurzen dunklen Kleid mit weit ausgestellten Ärmeln und grauen Strumpfhosen darunter kommt aus einem benachbarten Raum herbei.

„Bring uns Tee, Moe!“ sagt er mit sanfter Stimme und wenig später steht vor jedem von uns eine Tasse und ein kleines Kännchen duftenden Tees.

Tanaka-San schenkt sich Tee aus und tunkt unvermittelt zwei Finger seiner rechten Hand kurz in den Tee. Ich denke zuerst, er prüft die Trinktemperatur, aber er hält die benässten Finger über einen Stein, der in einer Schale mitten auf dem Tisch steht und sagt dazu:

„Fumetsu no seishitsu, gesuto ni nagai shiawasena jinsei o -Unsterbliche Natur, schenke unserem Gast ein langes, glückliches Leben-.“

Morishita-San macht es ihm nach und ich fühle mich bemüßigt, ebenfalls einen Tropfen Tee auf den Stein tröpfeln zu lassen und den Spruch zu wiederholen, nur dass ich statt ‚Gast‘ das Wort ‚Gastgeber‘ verwende.

Anschließend wendet sich Tanaka-San mir zu und sagt:
„Der ehrenwerte Morishita-San berichtete mir, dass Ihnen eine kleine Autoteilefirma in Deutschland gehört. Sie hatten einmal Geschäftsbeziehungen zur Tanaka Automotive Group…“

„Hai -Ja-,“ bestätige ich und berichte kurz: „Irgendwann hat eine andere Firma die Geschäfte übernommen. Es hieß, Ihre Firma sei verkauft worden. Nun ist die internationale Finanzwelt ein Haifischbecken. Als ich einen geplanten dreiwöchigen Japanurlaub angetreten habe, wollte ich mich daher auch informieren, was aus der Tanaka Automotive Group geworden ist.
Man verwies mich an die Amatsuka Werft Corporation und von dort hat man mich nun hierher weitergereicht.“

Der junge Mann lächelt und fragt:
„Haben Sie schon ein Hotel für ihre Reise gebucht?“

Ich schüttele den Kopf und antworte:
„Das hatte ich vor, hier vor Ort zu erledigen.“

„Okay,“ meint er. „Wir würden uns freuen, wenn Sie unsere Gastfreundschaft in Anspruch nehmen würden. Gerne führt Sie der ehrenwerte Morishita-San über die Insel und zeigt Ihnen, was es hier alles gibt.
Solch eine Insel vor Deutschland verankert würde zwar nichts bringen, denn die Nordsee ist ein flaches Meer mit einer speziellen Geologie. Vor 12.000 Jahren lag die Landschaft noch trocken. Vor 8.000 Jahren wurde das Land durch einen Tsunami teilweise weggespült. Seitdem gräbt sich jede Sturmflut tiefer ins Land. Vor 500 Jahren erst, ist mindestens eine ganze Stadt von einer Sturmflut verschluckt worden, bei der sogenannten ‚Grote Mandränke‘.“

Ich schaue ihn erstaunt an. Von der ‚Grote Mandränke‘, der die Stadt Rungholt zum Opfer gefallen ist, habe ich im Geschichtsunterricht in der Schule gehört. Der Rest von der Geschichte der Nordsee ist mir bis jetzt unbekannt gewesen, und nun höre ich hier in Japan davon.

„Eine Insel, wie diese hier, dort zu verankern, wäre also eine unnütze Leistung. Hier auf dem Pazifik macht sie dagegen Sinn. Wenn Sie zukunftsorientiert handeln möchten, wie das die Motivation meines Vaters gewesen ist, sollten Sie in den deutschen Mittelgebirgen fündig werden. Dort gibt es verlassene Einödhöfe und sterbende Dörfer, habe ich mir sagen lassen.“

Ich nicke höflich. Im Augenblick verstehe ich nur ‚Bahnhof‘, weil ich den Gedankengang des jungen Mannes nicht recht nachvollziehen kann. Er scheint sich umfassend über Deutschland informiert zu haben. Allerdings unter einem Aspekt, den ich gerade nicht nachvollziehen kann. Wir reden noch eine Zeitlang über Belangloses. Ich lange bei dem zum Tee gereichten süßen Gebäck gerne zu. Gegen neun Uhr verabschieden wir uns freundlich und Morishita-San führt mich den Gang weiter entlang, bis wir fast draußen stehen.

Hier öffnet er eine Tür und lässt mich in den Raum blicken.

„Dies wäre die bescheidene Bleibe während ihres Aufenthalts auf ‚Bunrei no Shima‘,“ sagt er und macht eine Geste, die mich auffordert einzutreten.

Es ist ein einfaches Ein-Zimmer-Appartement mit Wandschränken, Futon, Tisch mit vier Sitzkissen und einem Sideboard. Ein großes Fenster mit heruntergelassener Jalousie liegt der Tür gegenüber. Ich bedanke mich und Morishita-San zieht sich diskret zurück. Nun leere ich den Inhalt meiner Reisetasche in ein leeres Regal des Wandschrankes und schaue mich weiter um.

Ich finde auf dem Sideboard einen Lageplan in Japanisch und Englisch, der mir erklärt, dass ich draußen im Gang gegenüber Bad und Toilette finde. Woher ich morgen früh mein Frühstück bekomme, werde ich dann wohl sehen. Also lege ich mich in einem japanischen Nachtgewand aus dem Wandschrank auf den Futon, decke mich zu und bin auch bald eingeschlafen.

*

Als ich am nächsten Morgen erwache, ist es schon hell im Zimmer. Die Lamellen der Jalousie müssen sich automatisch gedreht haben. Ich schaue auf meine Armbanduhr und stelle fest, dass ich etwa zwölf Stunden wie ein Stein durchgeschlafen habe. Durch die lange Flugreise und die nachfolgende Recherche in zwei Städten hat der Körper wohl die Zeit zur Regeneration gebraucht.

Ich setze mich auf und sehe erstaunt, dass eine junge Frau in der gleichen Kleidung, wie ich sie gestern Abend in der Wohnung von Tanaka-San gesehen habe, im Seiza -Kniesitz- am Tisch kniet. Vor sich hat sie ein Tablett mit Essen stehen, dass sie irgendwann, während ich noch geschlafen habe, hereingebracht hat.

Als ich mich aufsetze, verbeugt sich die Frau, so dass ihre Stirn fast die Reisstrohmatte berührt und sagt, wobei sie eine Silbe langzieht – eine Eigenart, die ich bei japanischem Personal im Kundenkontakt schon oft beobachtet habe -:

„Ohayo gozaimaaaaaaasu, Shujin -Guten Morgen, Meister-.“

Ich gebe den Gruß lächelnd zurück und erhebe mich, um zum Tisch zu kommen. Dort setze ich mich im Kniesitz auf ein Kissen, ihr gegenüber und frage sie:

„Hajimemashite -schön, Sie zu sehen-. Schmidt Harold to moshimasu -Ich heiße Harold Schmidt-. Ona maehanan desuka -Wie heißen Sie-?“

„Sato Ruri desu, Shujin,“ antwortet sie mit einer weiteren tiefen Verbeugung.

„Ah, Sato-San,“ sage ich lächelnd. „Können Sie mir ein wenig helfen?“

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