Mittwoch, 21. Dezember 2022
Hao Ling -01
Meine ehrenwerten Eltern aus der angesehenen Familie Wu haben mir bei meiner Geburt den Namen Hao Ling gegeben. Das bedeutet 'Gute Seele'. Wir gehören einer der über fünfzig ethnischen Minderheiten innerhalb der Volksrepublik China an. Unsere eigenen Traditionen dürfen wir weitgehend unbeeinflusst leben.

Dazu gehört, dass wir im Grunde pazifistisch sind und den Militärdienst weitgehend ablehnen. Stattdessen besitzen wir eine weithin bekannte und angesehene Kunstakademie, auf der auch auswärtige Studenten zu finden sind, die nicht unserer Ethnie angehören.

Noch eine weitere Besonderheit unterscheidet uns von den meisten anderen Chinesen: Unser Volk von etwa 350.000 Seelen wird von einer Königin repräsentiert. Alle drei Jahre wird eine junge Frau in dieses Amt gewählt, die gerade die Schulzeit beendet hat. Einmal darf sie in ihrem Amt wiedergewählt werden. Dann muss es einen Wechsel im Amt geben. Wir sehen den Wandel lieber, als ein jahrzehntelanges stagnierendes Herrschertum.

Ihr zur Seite steht ein Premierminister, der alle vier Jahre vom Volk wiedergewählt wird, solange kein Gegenkandidat mehr Stimmen auf sich vereint. Eigentlich ist er der Bürgermeister unserer Heimatstadt, dem größten Ort auf dem von meiner Ethnie bewohnten Areal. Ihm zur Seite stehen etwa ein Dutzend Sekretäre, die jeder einem anderen Fachbereich in der Stadtverwaltung vorstehen.

Hinzu kommt noch ein sechzigköpfiger Stadtrat, der die internen Entscheidungen für die Stadt und die umliegenden Siedlungen berät. Die Königin kann nun die Verordnungen unterschreiben, oder sie zur erneuten Beratung zurückweisen. Sie nimmt sich auch oft ein Rederecht, um Entscheidungen des Rates in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Wir dürfen aufgrund unserer Seelenzahl einen Delegierten für die Dauer von zehn Jahren zum Volkskongress im Hohen Haus des Volkes nach Peking senden. Er vertritt dort in dem 3.000köpfigen Gremium unsere Belange. Diesem Gremium steht ein Sprecher vor, der aber nur moderierende Funktion hat. Darüber auf Regierungsebene der Volksrepublik steht das Politbüro, dessen Vorsitzender der Präsident der Republik ist.

Als ich mein Abschlusszeugnis in einer Feierstunde mit den anderen Schülern der Abschlussklasse ausgehängt bekomme, läuft gerade wieder ein Wahlkampf zur Neubesetzung des Amtes der Königin, nachdem die bisherige Königin ihre zweite Amtszeit vollendet hat. Interessiert habe ich mir die Wahlprogramme der Kandidatinnen angesehen und schwanke im Augenblick zwischen drei Kandidatinnen, deren Programme mir gefallen. Ich darf bei dieser Wahl zum ersten Mal ebenfalls wählen.

Dann ist der Wahltag heran und ich habe meine Stimme abgegeben. Eine Woche darauf finden die Feierlichkeiten zur Inthronisierung im historischen Palast unweit des Rathauses statt. Ich bin zuhause bei meinen ehrenwerten Eltern und verfolge den Ablauf der Zeremonie im Regionalfernsehen.

Mönche in braunen Roben aus dem Kloster am Rande der Stadt sind herbeigekommen und stehen nun auf der Freitreppe Spalier. Der große Platz vor dem Palast ist schwarz und bunt vor Menschen, die dicht an dicht stehen. Plötzlich öffnet sich das Haupttor des Palastes. Die Flügel schwingen nach innen und heraus tritt der Premier mit der alten und der neuen Königin zu beiden Seiten.

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