Dienstag, 6. Dezember 2022
Aino sasayaki -Flüstern der Liebe- 19
Anschließend zeigt sie mir ihr Ankleidezimmer und sucht dort für mich einen einfachen Kimono heraus. Sie selbst zieht sich ein wunderschönes Exemplar an. Ein Kunststoffkopf auf einer Kommode in der Ecke trägt eine prächtig zurecht gemachte Perücke. Die One-San zieht sie dem Dummy ab und sich selbst auf. Dann stellt sie sich vor einen Spiegel und zupft sie zurecht, um sie danach festzustecken. Dabei erklärt sie:

"Früher hat ein Stylist jedesmal die Frisur gelegt. Sie wurde dann mit einer Paste fixiert. Das war eine schmerzhafte Angelegenheit, so dass die Geishas die Prozedur nur alle acht Tage über sich ergehen ließen, oder wenn ein besonderes Ereignis anstand. Sie mussten lernen, auf einem Nacken-Höckerchen zu schlafen, um die Frisur nicht zu zerstören."

Nun sind wir soweit und verlassen die Wohnung. Wieder hat die One-San ihren Schirm dabei. Ich halte ihn über uns beide. Wir lassen uns zu einem Ochaya -Teehaus- bringen, wo sie heute einen Termin hat. Sie trägt dort ein jahrhundertealtes Gedicht vor und spielt dabei auf einer Shamisen. Es ist eine dreisaitige Laute, die man mit einem Plektrum zupft, das wie ein Ginkoblatt aussieht. Ich werde wohl auch noch lernen müssen, das Instrument zu beherrschen.

Getreu meinem Auftrag, Augen und Ohren offen zu halten, nehme ich alle neuen Eindrücke auf und achte besonders darauf, was und wie die One-San agiert. Nach einer Stunde brechen wir wieder auf und lassen uns zu ihrer Wohnung zurückbringen. Dort schminken wir uns ab und hängen die Kimonos wieder auf ihre Bügel. Die Perücke kommt auf ihren künstlichen Kopf zurück und wir nehmen noch einen leichten Imbiss.

Dabei frage ich die One-San:
"Wann lerne ich die Shamisen zum ersten Mal spielen?"

"Das dauert nicht mehr lange, Kiko-chan," antwortet sie lächelnd. "Bald ist dein Tag gefüllt mit den unterschiedlichsten Fächern, die sich wie in der Schule einander abwechseln!"

"Gehört dazu auch das Auswendiglernen von Gedichten und Liedern?"

Sie nickt und meint:
"Aber wenn sich herausstellt, dass du keine Singstimme hast, brauchst du nicht singen! Neben dem Lernen von Gedichten, wirst du Fabeln kennenlernen und - besonders wichtig: Aphorismen! Das sind Sinnsprüche, die du in Konversationen einfließen lassen solltest, immer wenn sich eine Gelegenheit dazu ergibt."

Wie die One-San es mir prophezeit hat, geschieht es dann auch. Vom frühen Vormittag bis zum frühen Abend habe ich Unterricht. Danach muss ich One-san bei ihren Terminen begleiten und zuschauen, sowie zuhören. Darüber vergehen drei Jahre.

Eines Tages schminken wir uns schon an einem Nachmittag und kleiden uns an. Heute lässt die One-San die Katsura auf dem Kunststoffkopf stecken und führt mich zu einem kleinen Spaziergang auf die Straße. Es ist warm. Die Sonne scheint wunderschön. Plötzlich sagt die One-San:

"Suche einen Mann für mich!"

Ich schaue sie mit großen Augen an. Sie wiederholt lächelnd:

"Na los, Kiko-chan! Welcher soll es sein?"

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