Donnerstag, 29. Februar 2024
Kiron, der Sucher -06
"Beobachte beim -Dhyana- Meditieren deine Gedanken und Gefühle. Hüte dich vor Zorn, Furcht und Aggressivität! Sie ergreifen schnell Besitz von dir! Du musst diese Gefühle bekämpfen!" antwortet er eindringlich.

"Sind diese Gefühle so stark?" frage ich nun, leicht verunsichert.

"Nein, aber sie sind schneller an der Oberfläche deiner Gedanken. Sie sind verführerischer. Nur wenn man Ruhe bewahrt, erkennt man die Unterschiede zwischen Yoni und Linga. Nur wenn man den inneren Frieden bewahrt, kann man ihn auch nach außen tragen!" erklärt er mit todernstem Gesicht.

In den folgenden Gesprächen habe ich erfahren, warum mein Hintern so geschmerzt hat, als er meine Meditation gestört hat. Ich muss wohl einige Zentimeter über dem Boden geschwebt sein, als ich Kontakt zu Prana gesucht habe.

In der Folgezeit versuche ich die tiefe Meditation während Paramapaavan -seine Heiligkeit- schläft. Prana -der Lebenshauch- ist neutral. Ich beherzige seinen eindringlichen Rat, keine negativen Gefühle zuzulassen, denn ich will niemand schaden und mich an niemandem bereichern.

*

Ich habe von meinem Lehrer sehr bald nach unserem Aufbruch einen eigenen Stock bekommen, mit dessen Hilfe das Gehen nicht so ermüdend ist. Er hat mir irgendwann von einer Selbstverteidigungstechnik erzählt, die er 'Kalaripayattu' nennt. Sie ist aus der genauen Beobachtung unserer wilden Brüder und Schwestern in der Natur entstanden. Wie sich Vögel, Raubtiere und ihre Beute verhalten, haben unsere Vorfahren nachgeahmt und daraus Griffe und Bewegungen entwickelt, mit oder ohne Stock oder andere Hilfsmittel.

Durch meine Verbindung mit Prana -Lebenshauch, der alles durchdringt- habe ich bei meinen von den Meditationen begleiteten Übungen bald eine besondere Fertigkeit erlangt.

Immer wieder erinnert mich Paramapaavan -seine Heiligkeit- daran:

"Denke daran, Kiron, setze deine Kenntnis nur zur Verteidigung ein!"

Ihm sind meine Kenntnisse allmählich unheimlich geworden, glaube ich.

Als wir uns wieder einmal einem Dorf nähern, um dort zu lehren, hören wir von der Seite den Schrei einer Frau in höchster Not. Wir schauen uns an und laufen näher heran. Ich bin schneller als mein Lehrer und komme hinzu, als ein junger Tiger im Begriff steht, eine junge Frau anzuspringen. Die Frau flüchtet, aber der Tiger ist natürlich schneller.

Ich komme von seitlich vorne und stoße dem gefährlichen Bruder meinen Stock zwischen die Zähne. Davon irritiert landet er auf seiner Flanke und rollt über den Rücken auf seine andere Seite, bevor er wieder auf die Füße kommt und mich anfaucht.

Währenddessen habe ich meinen Stock vom Boden aufgenommen und rede in leisem beruhigendem Ton auf das Tier ein. Der Tiger hat sich niedergelassen und faucht mich an. Dabei wird er immer ruhiger. Bald erhebt er sich wieder und dreht sich um. Immer wieder einmal den Kopf wendend und zurückblickend, entfernt er sich.

Mein Lehrer ist inzwischen heran. Als er die Szene überblicken kann, verhält er im Schritt und nähert sich langsam weiter. Schließlich erhebt er seine Stimme:

"Ich glaube, Kiron, ich kann dir weiter nichts mehr beibringen!"

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