Donnerstag, 16. Juni 2022
Die Gesellschafterin -10
In den folgenden Wochen erhält Tanaka-San Unterricht von unterschiedlichen Lehrern.

Mein Shujin stellt Tanaka-San unseren Waffenmeister Osawa-San vor. Dort wird der Sohn des Herrn im Fechten ausgebildet. Wie Tanaka-Sama mir erzählt, lernt er das Führen des Katana -Langschwerts- und des Wakizashi -Kurzschwerts-. Im Unterricht werden die Waffen durch Bambusstäbe ersetzt.

Außerdem erhält er Unterricht in der waffenlosen Selbstverteidigung Ju-Jutsu, weil dieser Kampfstil zum Einen Techniken aus verschiedenen Kampfsportarten kombiniert. Zum Anderen verspricht dieser Kampfstil schnelle Erfolge beim Erlernen, weil weniger die Ästhetik, als vielmehr die Effektivität im Vordergrund steht. Aus diesem Grund wird Ju-Jutsu auch in der Meido-Do -Mägdeschule- gelehrt.

Tanaka-Sama lässt es sich nicht nehmen, seinen Sohn selbst im Kodex der Samurai zu unterrichten. Der Kodex wird von Respekt und Ritterlichkeit bestimmt und unterstreicht die Loyalität gegenüber den Führenden und dem Bunrei. Es sind harte Regeln, aber sie kennen Rücksichtnahme, Verantwortung und Ehrenhaftigkeit. Auch die Meido lernen diese Regeln in der Meido-Do kennen, um Männer anhand derer unterscheiden zu können.

Während ich die beiden Herren bewirte, bekomme ich mit, was der Shujin seinem Sohn beibringt. Da in Kanada über den Shinto -Weg der Götter- in der schulischen Ausbildung nichts erwähnt wird, nimmt sich Tanaka-Sama auch die Zeit, seinem Sohn die uralte ethnische Religion der Japaner nahezubringen.

Zwischendurch übt ein anderer Lehrer mit Tanaka-San das Kanji, die japanische Schrift. Nach einiger Zeit, während der sich Tanaka-Sama über die Fortschritte seines Sohnes erfreut zeigt, kommt dieser mit einer Frage auf ihn zu.

"Yoo -Hi-, Otou-San -Vater-," fragt er, "in einem romantischen Gedicht habe ich etwas über die japanische Prachtnelke -Yamato Nadeshiko- gelesen. Um welche Blume handelt es sich dabei eigentlich?"

Der Shujin lacht fröhlich auf und erklärt ihm, dass es sich dabei um das Symbol des japanischen Frauenideals handelt. Tanaka-San schaut seinen Vater daraufhin verständnislos an. Deshalb beginnt dieser nun wieder eine kleine Unterweisung:

"Ich beginne am besten ganz vorne," meint er. "Unsere höchste Gottheit im Shinto ist Amatherasu, die Sonne. Das weißt du inzwischen, Masao-kun. Sie ist weiblich, obwohl die Gesellschaft wie du sie heute erlebst eher patriarchalisch aufgebaut ist. Manche Wissenschaftler gehen deshalb davon aus, dass die Gesellschaft in ferner Vergangenheit einmal matriarchalisch organisiert war.
Irgendwann hat sich das Machtgefälle in der Gesellschaft wohl gedreht. Ob es da einmal einen 'Kampf' zwischen den Geschlechtern gegeben hat, den die Frauen verloren haben, ist Spekulation. Das lässt sich nach Jahrtausenden nicht mehr feststellen. Beschreiben wir also die heutige japanische Frau: Ihr vorherrschender Wesenszug ist es willensstark zu sein. Sie kann sich durchsetzen, wenn sie es muss. Ihr Schicksal erträgt sie unbewegt, auch wenn es mit psychischen oder physischen Schmerzen verbunden sein sollte.
Dabei ist sie nicht selbständig oder unabhängig wie die westliche Frau, die du zum Beispiel aus Kanada kennst. Die Yamato Nadeshiko tut alles für ihren Vater, später für ihren Chef oder ihren Mann. Sie ordnet sich gerne unter und bringt alle nötigen Opfer zum Wohlergehen und Schutz ihrer Familie oder Firma, bzw. Organisation. Familie, Firma oder Organisation ist ihr also wichtiger als ihre persönliche Entfaltung - im Gegensatz zur westlichen Frau.
Im Außenverhältnis kann eine Japanerin sich für ihren Herrn durchsetzen, während sie im Innenverhältnis seine Führung akzeptiert. Andere Männer respektieren das Symbol, das der Halsreifen darstellt, denn sonst würden sie in ein Innenverhältnis eingreifen, das ihnen nicht zusteht. Ihr Herr würde sich in seiner Ehre verletzt sehen und den Anderen zum Duell herausfordern."

Der junge Mann nickt nachdenklich.

Nach einigen Wochen scheint seine Ausbildung beendet zu sein. Tanaka-Sama nimmt mich mit in den Ratssaal, wo ich der nun folgenden Zeremonie, aus dem Hintergrund heraus, zuschauen darf. Der Shujin setzt sich in den Sessel des Kanrisha -Ortsvorsteher-. Der Ratssaal bevölkert sich in den folgenden Minuten mit den früheren Abteilungsleitern der Tanaka Automotive Group, den jetzigen Hyogi-in -Ratsherren- der Bunrei no Shima. Zwei Hocker bleiben noch leer.

Schließlich öffnet sich die Tür zum Ratssaal ein letztes Mal und Tanaka-San betritt den Raum in Begleitung unseres Waffenmeisters Osawa-San. Sie stellen sich gegenüber Tanaka-Sama auf, den Block mit dem Bunrei der Insel zwischen sich und dem Kanrisha.

Der Shujin erhebt als Erster das Wort. Er sagt:
"Tritt vor, Tanaka Masao!"

Tanaka-San macht ein paar Schritte auf ihn zu und Osawa-San tritt hinter ihn.

Dieser sagt nun:
"Ich, Osawa Isamu, gebe mein Wort, dass dieser Mann geeignet ist, Mitglied im Rat der Bunrei no Shima zu werden."

Der Shujin antwortet ihm wie nach einem festgelegten Ritual:

"Ich, Tanaka Daisuke, akzeptiere dein Wort!"

Reihum steht nun jedes Ratsmitglied auf, nennt seinen Namen und erklärt, dass er ebenfalls das Wort des Waffenmeisters anerkennt. Danach überreicht Tanaka-Sama seinem Sohn feierlich die Samurai-Schwerter in ihren Scheiden.

"Wirst du immer zum Wohle der Gemeinschaft handeln, dich respektvoll und ehrenhaft, sowie verantwortungsbewusst verhalten?" fragt der Shujin seinen Sohn bei der Übergabe.

"Ja, das werde ich!" antwortet Tanaka-San mit fester Stimme.

"Welcher ist dein Bunrei?" fragt der Shujin weiter und Tanaka-San antwortet:

"Mein Bunrei ist der unserer Insel, unserer Gemeinschaft."

"Dann," fährt der Shujin fort, "erkläre ich dich hiermit in meiner Eigenschaft als Kanrisha -Ortsvorsteher- dieser Insel in Gegenwart der versammelten Ratsherren zu meinem Stellvertreter."

Tanaka-Sama lächelt stolz und der Rat zeigt seine Zustimmung in Form des aufbrandenden Beifalls.
Anschließend soll sich Tanaka-San auf den leeren Hocker neben dem Sessel des Shujin niederlassen. Osawa-San setzt sich auf den übrigbleibenden Hocker.

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