Sonntag, 22. Mai 2022
Lon-Wa-Lha - 37
Sie öffnet mir die Tür zur linken Hand im Eingangsbereich und lässt mich eintreten. Das Rattern zweier Nähmaschinen setzt kurz aus, als die Mägde aufschauen. Ich lächele ihnen zu und sie widmen sich wieder ihrer Arbeit. Da kommt auch schon Beven auf mich zu.

"Deleg, Tsomo Sophie, dein neues Gewand hängt hinter dem Vorhang."

Sie führt mich zu der Umkleidenische und hebt den Vorhang zur Seite. Wir schlüpfen dahinter. Dann ziehe ich meinen Umhang aus und das von Pema in Handarbeit veränderte Gewand und schlüpfe in das Neue. Jetzt zwickt wenigstens nichts mehr. Es ist eine Wohltat, das neue Gewand zu tragen. Beven sieht meinen zufriedenen Gesichtsausdruck und fragt:

"Wann kommt es denn, Sophie?"

"In vierzehn Wochen etwa, Beven."

"Ich freue mich so für dich! - Sag? mal, darf ich dich etwas Intimes fragen?"

"Nur zu, Beven. Was möchtest du wissen?"

"Wie wird man die Gefährtin eines Lopon? Wie lässt man einen hiesigen Mann vergessen, dass er fünfzehn Mägde hat?"

Ich muss spontan lachen.

"Beven, die hiesigen Männer lassen sich nicht steuern. Du bist ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert."

"Ja, Lhakpa sagte dazu auch schon, nur Shita -die Erdgöttin- kennt die Gedanken des Lopon..."

"Es gibt subtile Methoden, Beven. Aber jeder Mann reagiert anders, jeder hat andere Vorlieben. Gebe dich mit kleinen Fortschritten zufrieden, aber verfolge dein Ziel beharrlich. Am Ende hast du entweder den erwünschten Hauptgewinn oder scheinbar alles verloren. Aber dieser Verlust kann wieder ein Gewinn sein: Entweder der Mann empfindet ebenfalls den Verlust und setzt alles daran, dich zurück zu gewinnen, oder du lernst einen anderen Mann kennen. Dieses Spiel wiederholt sich so oft, bis du den Herrn der Liebe für dich gefunden hast!"

"Du bist doch auch als Magd in das Haus Dorje Rabterns gekommen und hast sein Herz erobert - an seinen einheimischen Mägden vorbei..."

"Aufgefallen bin ich ihm durch meinen Tanz. Dann durfte ich mal die eine, mal die andere Nacht mit ihm verbringen. Ich trat ihm mal als Herbergstänzerin, mal als Magd, mal als emanzipierte Europäerin gegenüber. Solch eine multiple Persönlichkeit in einer einzigen Frau vereint faszinierte ihn. Er bekam nicht genug von mir. Es machte ihn neugierig auf mich. Neugierig darauf, welche Persönlichkeiten noch in mir stecken. Aus dem einfachen 'mögen', entwickelte sich im Laufe der Zeit Liebe. Tiefe Gefühle von mir zu ihm, wie von ihm mir gegenüber, die ihn dazu brachte, seine anderen Mägde zu vernachlässigen.
Als er das bemerkte, bekam er Schuldgefühle. Er verstieß mich, konnte mich aber nicht vergessen. Sein Geschäft drohte den Bach hinunter zu gehen, weil seine Gedanken beständig bei mir waren. Da entschloss er sich nach mir zu suchen. Als er mich wiederfand, trug er mir die Gefährtenschaft an."

"Hm, du meinst..."

"Ja, lass euch beiden Zeit Gefühle für einander zu entwickeln. Sei nicht eifersüchtig auf die anderen Mägde. Du hast doch schon die Leitung über seine Schneiderei erlangt. Du wirst auch noch sein Herz erobern, wenn er ebenfalls Gefühle für dich entwickelt, die über das rein sexuelle Erleben hinausgehen. Mach ihn neugierig auf dich! Zeig ihm, dass er alles bekommt, was er sich wünscht in einer Person und gieße das Pflänzchen Liebe, sobald es aufkeimt. Höre ihm zu! Auch ein starker Mann war mal ein kleiner Junge. Sobald er die Mauer abbaut und dich in seine Seele blicken lässt, hast du ihn an der Angel! Falle dann aber nicht in europäische Verhaltensmuster!"

"Danke dir, Sophie! Wie gefällt dir das Umstandskleid?"

"Sehr gut, Beven! Sehr gut! Ich nehme es."

Beven legt mir mein altes Gewand sorgfältig zusammen und überreicht es mir. Im Hinausgehen fragt sie noch:

"Weißt du, ich habe während des Studiums zum Ausgleich lateinamerikanischen Tanzsport gemacht. Tango und so... Zwischendurch habe ich mich mal für Flamenco interessiert. Wangpoo Dondrup Yügyel kommentierte während der Geburtstagsfeier meinen Tanz folgendermaßen: Du hast unverschämt getanzt, stolz, trotzig, herablassend, verächtlich. Das hat ihn dazu animiert, mich erobern zu wollen."

"Hm, und was sagte die Mutter seines Sohnes dazu?"

"Sie war betrübt. Daher habe ich mich zurückgezogen, um den Beiden Zeit zu einer Aussprache zu lassen."

"Das ist ein Tanz auf Messers Schneide, Beven! Frage den Lopon lieber, ob er einen anderen Lopon kennt, der eine Magd sucht. Das kann in dieser archaischen Natur aus vielerlei Gründen der Fall sein."

"Du meinst also, in Konkurrenz zu Lhakpa zu treten und dem Lopon die Wahl zu lassen, wäre keine gute Idee?"

"Nein, Beven! Das bringt Ärger und Unfrieden in das Haus. Überlege es dir gut! Glück und Segen dir!"

"Glück und Segen auch dir, Sophie!"

*

Ich habe mich dem Lopon geoffenbart. Darauf hat er mich gelobt und mir versprochen, sich für mich umzuhören. Einen Monat danach darf ich den Lopon bei Tisch bedienen. Ein fremder Lopon ist zu Besuch. In dessen Begleitung befindet sich eine Tsomo mit zwei wunderbaren Mädchen.

Nachdem der Tee und die Speisen auf dem Tisch stehen, soll ich mich zu der Herrschaft an den Tisch setzen. Mein Lopon ermuntert mich, von meiner Arbeit zu sprechen und wie ich seine Manufaktur 'umgebaut' habe. Ich berichte also, dass ich eine Kundenkartei führe und einfache Kleidungsstücke vorfertigen lasse, die dann in einem Regal auf den Abverkauf warten.

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