Donnerstag, 12. Mai 2022
Lon-Wa-Lha - 32
Täglich zu Beginn der Dunkelheit wird ein Zelt aufgebaut und ein kleines Feuer in der Zeltmitte entzündet. Der Lopon hat mir erklärt, dass das Zelt eine Mini-Version einer Jurte ist. Tsomo -Dame- Lea hat ihm das Zelt mitgegeben, damit ich nicht mit den Männern im Führerhaus übernachten muss. Dennoch übernachtet der Lopon bei mir im Zelt hinter einem Wandteppich.

Morgens und abends gibt es Fladenbrot und Trockenfleisch zu essen, dass in einem Topf über dem Feuer klein geschnitten und gekocht, dann zwischen das aufgeschnittene Fladenbrot gelegt wird. Mittags tunken wir unser Fladenbrot in Yakmilch.

Am Abend des fünf Tages erreichen den Ort, wo die Waren auf Yak-Karawanen umgeladen werden. Plötzlich wird Hubschraubergeräusch lauter. Kurz darauf landet ein Fluggerät neben der Karawane, während die Männer die Yaks festhalten. Mein Begleiter nimmt meine Koffer und führt mich auf dieses Fluggerät zu. Zwei Piloten haben inzwischen die Kanzel geöffnet und nehmen dem Mann meine Koffer ab, um sie hinter den Sitzen zu verstauen.

Anschließend nehmen wir alle in den Sitzen Platz und Chungne Dargye erklärt mir die Funktionsweise der Kommunikationshelme. Die Piloten haben derweil die Kanzel wieder geschlossen und fahren die Motoren hoch. Wir heben ab und durchfliegen ein paar wildschöne Hochtäler, umgeben von majestätischen Berggipfeln.

Fünf Stunden später, die Abenddämmerung beginnt und die untergehende Sonne lässt die Landschaft in besonderem Licht erstrahlen, erreichen wir ein Hochtal mit mehreren halbkugelförmigen Bauwerken. Wir landen am Rand der Siedlung unter einem überhängenden Felsen.

Anschließend führt mich der Lopon auf die Siedlung zu. An einem der Häuser, die für meine Begriffe alle gleich aussehen, setzt er die Koffer ab und betätigt den Türklopfer.

Eine Frau in einfarbiger Kleidung öffnet uns. Nachdem wir die Schuhe gewechselt haben, verabschieden sich die Männer von mir und betreten eine Treppe im hinteren Bereich der Halle. Ich folge der Frau, die sich mir gegenüber oft verbeugt, durch die Halle in einen kleineren Raum mit Tisch und Sitzkissen. Sie benennt es das Study -Herrenzimmer/kleiner Salon-.

Als ich eintrete, erhebt sich eine Frau in einem bunten Sari vom Tisch und wendet sich mir zu. Es ist Lea! Sie kommt freudestrahlend auf mich zu. Wir fallen uns in die Arme und sie begrüßt mich herzlich:

"Hey, Beven. Schön, dass du da bist. Wie war die Reise?"

"Hey, Lea!" gebe ich zur Antwort. "Eine grandiose Gebirgslandschaft, die man im Auto oder Flugzeug gar nicht so wahrnimmt! Die Reise war ein Erlebnis!"

Lea bietet mir Platz an und ich setze mich im Schneidersitz auf das Sitzkissen. Die Frau, die uns bedient, bringt mir nun auch ein Kännchen Tee und eine Tasse. Dann füllt sie das Teegebäck wieder auf.

"Du kannst im Zimmer von Kri-kri schlafen," nimmt Lea das Gespräch wieder auf. "Sie kann dir alles zeigen. Die Nacht wird sie sicher bei ihrem Lopon -Herrn- verbringen."

Ich mache große Augen. Lea lacht.
"Nein, nicht Lobsang, sondern Tajo Tendsin. Kri-kri gehört zwar zu unserem Haushalt. Aber ich habe angeregt, dass die Mägde mit den Mitarbeitern, die zum Hausstand gehören, bekanntgemacht werden. Wenn Gefühle entstehen, sollte man das fördern, habe ich zu Lobsang gesagt. Mägde sind schließlich nicht gefühllos, auch wenn in ihrem Dienst Gefühle nichts zu suchen haben."

"So hast du eine mögliche Gefahr für eure Ehe in der Zukunft in vernünftige Bahnen gelenkt," meine ich augenzwinkernd.

Lea nickt lächelnd.

"Das war ungefähr auch mein Argument gegenüber Lobsang," antwortet sie.

Dann schaut sie auf die Uhr und meint: "Es ist schon ziemlich spät, Beven. Geh mit Kri-kri und schlaf gut. Wir sprechen morgen nach dem Frühstück weiter."

*

Die Tsomo hat mir aufgetragen, der Europäerin zu zeigen, wie bei uns die Mägde leben, bevor sie in ein paar Tagen an Lopon Chime Kalzang -unsterbliches Glück- weiter geht. Ich helfe ihr, ihre Koffer die Treppe hinauf zu tragen und zeige ihr meine Kammer, die ich bisher alleine bewohnt habe. Es ist etwas mühsam, da Beven - wie sie heißt - unsere Sprache noch nicht spricht.

Ich deute auf mich, sage "Kri-kri" und zeige auf mein Strohlager. Dann zeige ich auf sie, sage "Beven" und zeige auf ihr Strohlager, dass ich heute Nachmittag schon vorbereitet habe. Danach trete ich an die Wand, ziehe an Schnüren einen Schilfrohrvorhang hoch, zeige auf die Regale dahinter und sage wieder "Beven". Wie beiläufig weise ich noch auf den Vorhang rechts daneben und sage "Kri-kri".

Nun trete ich an mein Strohlager, öffne die kleine Truhe daneben, zeige ihr meine Töpfchen und Fläschchen aus Ton, nehme den Einsatz heraus und lasse sie die flauschigen Tücher darunter sehen. Anschließend öffne ich ihre Truhe, hebe den noch leeren Einsatz hoch und zeige ihr, dass ich ihr ebenfalls Tücher hineingelegt habe.

Beate legt ihren Koffer auf ihr Strohlager, füllt mit dem Inhalt ihre Regale, nimmt dann einen kleinen Koffer und füllt den Einsatz mit durchsichtigen Fläschchen aus teurem Glas. Ich benenne alle Gegenstände im Zimmer mit ihren tibetischen Namen, wie ich das anfangs auch gegenüber der Tsomo gemacht habe. Danach lasse ich sie allein, denn mein Lopon erwartet mich.

Am nächsten Morgen wecke ich Beven bei Sonnenaufgang. Sie ist noch ganz verschlafen. Ich zeige ihr das Bad und die Armaturen für das fließende Wasser, das wir seit wenigen Jahren besitzen. Dabei lege ich ihr ein großes und ein kleines Tuch bereit. Anschließend bereite ich das Bad für den Wangpoo, seiner Chori -Tochter- Sangmo und die Tsomo vor.

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