Donnerstag, 28. April 2022
Lon-Wa-Lha - 25
Die Zuhörer werden immer nachdenklicher.

Schließlich durchbreche ich die sich ausbreitende Stille mit einem Statement und einer Frage:

"Eine Frau braucht bei euch nicht stark sein, im Beruf ihren 'Mann' stehen, aber sie trägt ihren Teil zum Wohl der Hausgemeinschaft bei. Was macht sie denn so den ganzen Tag?"

Lea antwortet lächelnd:
"Da die Ressourcen der Umwelt nicht ausgebeutet werden, nur das benutzt wird, was man braucht, gibt es auch keine Massenproduktion, die davon lebt, dass die erzeugten Güter massenhaft gekauft werden - was eine Spirale ohne Ende in Gang setzt - gibt es auch keine Haushaltsgeräte in den Haushalten, sondern es ist alles Handarbeit. Das braucht natürlich Zeit und man ist abends rechtschaffen müde. Auch dann, wenn Mägde im Haushalt leben."

"Was verdienen die Mägde eigentlich für ihre Arbeit?"

"Alle Hausangestellte, auch die Lehrlinge und Gesellen bei den Handwerkern, bekommen Essen, Kleidung und Wohnung frei. Sie sind Teil des Haushaltes und stehen unter dem Schutz und der Fürsorge des Hausherrn. So wie es früher auch in Europa üblich war. Gehört zur Fürsorge auch die Unterstützung der Familie der Magd, managt der Hausherr auch das! Der Hausherr ist ihrer vollen Loyalität gewiss, denn sie wissen, dass er niemals etwas entscheidet, was ihnen in irgendeiner Weise schadet."

"Hm, üben die Frauen wirklich keine Macht aus? Sind sie alle in dienender Position?"

"Doch, es gibt Ausnahmen: Die Frau, die dem Haushalt vorsteht, ist meist die Gefährtin des Hausherrn, manchmal auch eine Erste Magd. Ich habe als Gefährtin das Recht, Kri-kri Aufträge zu erteilen, ohne dass Lobsang erst sein Okay geben muss. Ich werde mich aber immer vorher mit ihm absprechen, wenn das möglich ist. Würde Lobsang sterben, wäre sein Sohn der Hausherr und seine Mutter stünde dem Haushalt vor. Solange der Junge noch nicht erwachsen ist, berät sie ihn in seinen Entscheidungen. So ist sie durch die Hintertür Hausherrin."

"Und wenn es keine männlichen Nachkommen gibt?"

"Bleibt alles in der Familie, im Normalfall. Dann wird der Bruder oder dessen Sohn Hausherr. Einen Sonderfall gab es früher einmal, als Lobsangs Vater noch ein junger Mann war: Der Wandii einer Nachbarstadt an Lon-Wa-Lhas früherem Standort erlitt einen Jagdunfall. Mit seiner Gefährtin hatte er zwei Töchter. Mit einer Magd einen kleinen Sohn. Die Magd regierte nun 'durch den Vorhang', wie man sagt, als Mutter des Sohnes. Die Witwe fiel auf die Stufe einer Magd zurück. So weit, so gut. Aber es gab Eifersüchteleien, die die Witwe dazu veranlasste, mit ihren Töchtern den Haushalt zu verlassen. In der freien Natur zu überleben, geht nur solange gut, wie man keinem Raubtier begegnet!
Sie trafen eine Handelskarawane und stellten sich unter den Schutz des Händlers. Der Händler kam dieser Verpflichtung vor den Göttern nach und beschützte sie bis sie die nächste Stadt erreichten. Hier in Lon-Wa-Lha vermittelte er sie an einen Mann, der vom finanziellen Standpunkt betrachtet, in der Lage war, den Unterhalt für alle drei auf zu bringen."

"Woher weiß der Händler, ob ein ihm fremder Mann so finanzstark ist? Es könnte doch auch ein Blender sein," resümiert Patrick.

Lea lächelt:
"Stell dir mal vor, du bist ein Autohändler. Da kommt ein gut gekleideter Mann und will einen Luxuswagen kaufen, aber kaum etwas bezahlen. Würdest du ihm den Wagen verkaufen oder ihm lieber einen Kleinwagen anbieten? Der Händler hat auch eine Summe genannt und sie haben sich auf hohem Niveau geeinigt nach einigem Feilschen."

"Die Frau wurde verkauft wie ein Stück Vieh?" werfe ich empört dazwischen.

"Nein, Mama, nicht wie ein Stück Vieh. Auch ein Yak ist hier kein Gegenstand, wie man das in Europa sieht. Ein Yak ist hier ebenso ein Teil der Natur, wie ein Mensch und genießt die gleiche liebevolle Fürsorge wie... wie ich, zum Beispiel! Dechen Lhundup, unser Heiler, hat mit dem Kaufpreis bewiesen, dass er vermögend ist und sich drei weitere Mitglieder in seinem Haushalt leisten kann - wovon zwei sogar von weißer Seide sind, also noch nicht arbeiten dürfen. Kleine Tätigkeiten, die sie freiwillig machen, um zu lernen, ausgenommen. Von weißer Seide bedeutet, dass sie noch Jungfrauen sind. Es entspricht seiner Ehre, dass er auch diese Eigenschaft der Mädchen schützt."

"Ja," ergänzt Lobsang, "Einem Mann unseres Volkes, der um Schutz ersucht wurde, sind die Hände gebunden. Es ist ihm eine Ehre, das schutzsuchende Wesen mit der ganzen Kraft seiner Muskeln und seines Intellekts vor Schaden bewahren. Ich sage bewusst 'Wesen', weil ich diesen Satz auf die gesamte Natur angewendet sehen will! Wie eine Biene ihrem Imker Honig gibt, oder Pflanzen ihre Heilkräfte dem Menschen zur Verfügung stellen und dafür umsorgt werden, so dient die Frau dem Mann, denn dieser beschützt sie, achtet und wertschätzt sie. - Das Prinzip GEBEN UND NEHMEN ist ja auch in der westlichen Welt bekannt."

"Aber sie kann sich ihn nicht aussuchen!" sage ich, vielleicht lauter als nötig.

"Jaein. In Europa gab es auch und gibt es immer noch arrangierte Ehen. Nila Drime, die jetzige Gefährtin von Dechen Lhundup hatte die Wahl sich mit ihren Töchtern Jinpa und Khandro unter den Schutz des Händlers zu stellen oder nicht. Sie tat es aus Kalkül. Sie kam als Magd in das Haus Dechen Lhundups. Er trug ihr die Position seiner Gefährtin an. Sie sagte erst nach ein paar Wochen zu. Sie prüfte vorher ihre Gefühle für Dechen Lhundup und seinen Umgang mit ihren Töchtern."

"Welche Alternative hätte sie denn gehabt?"

"Sie hätte weiterhin als Magd in Dechen Lhundups Haushalt leben können oder ihn bitten können, für sie einen anderen Lopon -Herrn- zu finden."

"Aber er hat doch Geld für sie bezahlt..."

"Wieviel wert ist aller Reichtum der Welt, wenn es um Gefühle geht? Natürlich kann er von dem neuen Lopon eine Ablösesumme verlangen, aus zwei Gründen: Einmal, um seinen Einsatz zurück zu bekommen. Zum Zweiten, um sicher zu sein, dass der neue Lopon sich den Unterhalt leisten kann. Das kann so lange geschehen, bis die Magd ihren Herrn der Liebe gefunden hat."

"Muss sie denn nicht tun, was ihr Herr befiehlt, egal was er sagt?"

"Sie wird alles tun, was der Hausgemeinschaft nützt, in der sie lebt. Damit erwirbt sie sich das Recht versorgt zu werden. Darunter fällt auch die Fürsorge im Krankheitsfall. Sie hat das Recht Anweisungen ihres Herrn abzulehnen, die sie zu seinem Sexobjekt machen. Wäre eine der Tänzerinnen gestern zum Beispiel unsittlich angegangen worden, hätte der Mann verschiedene Tabus gebrochen: Einmal hätte er im Beisein der Götter der Ahnen den Hausfrieden gebrochen und er hätte den oder die Schutzherren der Mägde gegen sich aufgebracht. Der Lopon der Tänzerin würde sich persönlich tätlich angegriffen fühlen und entsprechend reagieren. Den Hausfrieden zu brechen bedeutet aber, sich außerhalb der Gemeinschaft zu stellen. Er wird als Geächteter die Stadt verlassen müssen."

"Barbarische Sitten!"

"Nun, da jeder die Konsequenzen kennt, kenne ich bis jetzt keinen Fall, dass jemand alleine durch die wilde Bergwelt streifen musste. Zwar senkt der Alkohol die moralischen Grenzen, aber wenn einer sein Limit überschreitet, wird er fürsorglich nachhause geleitet.
Im Lager des Händlers -hat mir Dechen Lhundup erzählt- hat einer der Männer, die Jinpa bediente, die Kleine angefasst. Der Händler ist sofort dazwischen gegangen!"

"Was ist passiert?"

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