Dienstag, 26. April 2022
Lon-Wa-Lha - 24
Danach treten Musiker mit traditionellen Instrumenten auf und die Gesellschaft tanzt. Wir halten uns zurück, denn diese Art zu tanzen ist uns unbekannt. Danach wird das Festessen aufgetragen. Wir sitzen an den Tischen und langen ausgiebig zu.

Während des Essens treten vier junge Männer auf, die sich verkleidet haben. Sie führen einen Maskentanz vor. Nach dem Essen werden Früchte und vergorener Beerensaft gereicht. Der Wandii klatscht zweimal in die Hände und zwei junge Mägde in durchsichtiger Seide führen ihren Liebestanz auf.

Während die einheimischen Gäste lächelnd und klatschend zuschauen, ist der Anblick in meinen Augen sehr befremdlich. Ich schaue weg und unterhalte mich lieber mit Patrick, dem Brautpaar und den Schwiegereltern. Nur ab und zu werfe ich einen Blick auf die Szene. Auch Patrick tut desinteressiert. Außer den einfach gekleideten Bediensteten sind kaum Frauen im Festsaal anwesend.

Gegen Mitternacht löst sich die Gesellschaft langsam auf. Auch wir spüren die Müdigkeit. Also trennen wir uns und gehen in unser Zimmer schlafen, während sich der Wandii mit seiner Frau Leonie und Lobsang mit Lea in ihre Häuser verabschieden.

Gegen Mittag des darauffolgenden Tages, als wir wieder ausgeruht sind, kommen Lobsang und Lea zu uns in die Herberge.

"Hallo Mama," begrüßt mich Lea, glücklich lächelnd. "Na, seid ihr ausgeruht? Dann können wir ja eine weitere Nacht durchfeiern!"

"Oh je, Lea, wie lange dauern denn solche Feste hier im Allgemeinen?" frage ich zurück.

"Eigentlich nur eine Nacht. Aber Gründe zum Feiern lassen sich leicht finden," antwortet Lobsang lächelnd an ihrer Stelle. Lea übernimmt die Konversation wieder:

"Der Grund warum wir hier sind ist der, dass wir in fröhlicher Atmosphäre über die kulturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten diskutieren wollten, ohne dass einer den anderen zu seinem Standpunkt als dem Alleingültigen überzeugen will. Lobsang und seinem Vater ist das gegenseitige Verständnis wichtig, aus dem Vertrauen und persönliche Freundschaften erwachsen können."

"Aber natürlich nicht müssen," ergänzt Lobsang. "Das Eheversprechen - nennen wir es mal mit europäischem Terminus - kam euch sicher fremd vor, streckenweise für europäische Augen sogar peinlich, wie ich gesehen habe."

"Parallelen zu einer europäischen Hochzeit gab es aber doch," antwortet Patrick. "Auch hier waren Priester dabei. Es wurde ein Versprechen abgegeben und dann gefeiert."

"Dass der Khenchen Lama die Zeremonie leitete, war nicht selbstverständlich! Unsere Gesellschaft ist patriarchalisch aufgebaut. So kann jeder Höhergestellte von den Brautleuten gebeten werden, den Part zu übernehmen. In unserem Fall war aber die Nähe des Klosters ein glücklicher Umstand, da mein Vater der Wandii ist.
In seinem Haus, in Gegenwart seines Norbu, ist der Hausherr der höchste Vertreter der Götter der Ahnen. Sein Wort gilt. Er leitet die Zeremonien. Wenn er aber nun seiner Gefährtin das Versprechen abnimmt, wer nimmt ihm dann das Versprechen ab? Der nächsthöhere Vertreter der Götter der Ahnen oder eine männliche Person seines Vertrauens!
In unserem Fall fiel daher die Wahl auf den Khenchen Lama, weil dieser die direkte Verbindung zu den Göttern der Ahnen darstellt."

"Kannst du uns den Ablauf der Feier ein wenig erklären?" fragt Patrick nun.

"Aber gern: Die Räucherstäbchen sollen die Götter der Ahnen ehren. Die Tropfen des Getränks, mit dem der Norbu benetzt wird, zur Eröffnung einer Zeremonie oder zu Beginn einer Mahlzeit ist so etwas wie euer Tischgebet. Der Maskentanz ist uralt. Er stammt noch aus animistischen Zeiten und erzählt eine Episode aus den Göttersagen, so als würde man trotz Christentum in Irland Teile aus den keltischen Sagen tänzerisch darbieten."

"Und die nackten Frauen??"

"Ihr denkt jetzt westlich materialistisch, ehrenwerte Schwiegereltern! Ihr denkt, wir würdigen die Frau herab - reduzieren sie auf ihr Geschlecht. Hier müsst ihr euch von der westlichen Denkweise frei machen!
Ihr wisst vielleicht, dass sich die Portugiesen, als sie im 16.Jahrhundert in Indien landeten, darüber wunderten, eine christliche Gemeinschaft vorzufinden. Die Thomaschristen hatten da schon eine tausendjährige Tradition in Indien. Hätten uns in dieser Zeit christliche Missionare erreicht, hätten wir das Christentum assimiliert wie vor ca. 2000 Jahren den Buddhismus.
Der Lamaismus ist eine Mischung aus Buddhismus und dem Animismus unserer Ahnen und die Abgelegenheit unserer Heimat begünstigte die Entstehung dieses Sonderweges. Was ist nun der Animismus:
Wir verstehen uns als Teil der uns umgebenden Natur, nicht als ihre Herren. Die Natur ist in unseren Augen beseelt. Pflanzen, Tiere und Menschen können Gefühle empfinden. Erde und Luft dürfen nicht verbraucht, sondern nur gebraucht werden, denn wir sind nur zu Besuch auf der Erde, wir müssen sie für unsere Nachkommen erhalten. Erzeugen wir Abfall, müssen wir darauf achten, dass er verrottet und zu Dünger wird. Die Naturgewalten, lernt man in dieser Umwelt, sind für den Menschen nicht beherrschbar, auch wenn die westliche Welt das glaubt. Das macht demütig. Das ließ unsere Vorfahren an die Göttlichkeit der Natur glauben. Die Philosophie des Buddhismus wurde in den Animismus nur integriert, löste ihn aber nicht ab. So hätten unsere Vorfahren die Ideen christlicher Missionare - ohne ständige Verbindung mit Rom - nur in den Animismus integriert.
Zurück zur Frau: Wie ich las, war der Völkerapostel Paulus als Frauenfeind verschrien. So pauschal gesprochen, tut man ihm sicher unrecht. Aber er sah die unmoralische, Frauen verachtende Lebensweise der römischen Herren und propagierte die geistige Liebe. Die Körperlichkeit der Frau lenkte er in enge Grenzen. Daraus hat sich im Laufe der vergangenen 2000 Jahre eine Doppelmoral entwickelt, und gerade das halte ich für verlogen.
Eine europäische Frau, die sich von den gesellschaftlichen und erzieherischen Beschränkungen löst und ganz ihre Weiblichkeit lebt, wird schwach und angreifbar, weil nun das Pendel in die andere Richtung schwingt und die Männer denken: Die ist leicht zu haben.
Lassen Sie die Frau aber ihre Weiblichkeit erleben und ausleben unter dem Schutz eines Mannes, der einen Ehrbegriff lebt, wie ihn die europäischen Ritter vor tausend Jahren lebten, kann ihr nichts passieren. Natürlich gibt es unterschiedliche Charaktere, die Männer sind unterschiedlich stark, und dadurch gibt es auch Ausnahmen von der Regel. Aber die gibt es in allen Gesellschaften.
Die Tänzerinnen in den durchsichtigen Gewändern gestern Nacht symbolisierten das ewig Weibliche. Sie waren etwas fürs Auge und fürs - wie sagt ihr dazu - 'Kopfkino'. Haben sie Gefühle geweckt, dann sollten die Männer diese bei ihren Frauen ausleben."

"Und was hat es nun genau mit diesem Stein - diesem Norbu auf sich?" frage ich, um von den leichtbekleideten Frauen abzulenken.

"Da in dieser allgewaltigen Natur unsere Vorfahren sich das Wohlwollen der für sie göttlichen Natur versichern wollten, haben sie Handlungen ausgeführt, die sie immer wiederholten, zu Ritualen werden ließen. Wenn sie nun in ihren Zelten saßen, draußen brüllte seit Tagen ein Schneesturm, dann legten sie einen Stein, den sie auf ihren Wanderungen fanden, in ihre Mitte. Sie sprachen Gebete an die Naturgötter über ihm und opferten Speisen über ihm. Das jeweilige Familienoberhaupt leitete das Ritual.
Als sich dann später mehrere Familien zu Stammesgemeinschaften zusammenschlossen, leitete der Häuptling die Zeremonie vor einem besonderen Norbu, für den ganzen Stamm. Über die Jahrtausende hat sich diese Tradition gehalten. Der Familien-Norbu befindet sich in jedem Haus. Da herum schart sich die Familie die Hausangestellten. Der Norbu jeder Stadt befindet sich im Ratssaal. Die Norbus stellen die Verbindung zu den Göttern der Ahnen, zur Natur dar.
So betritt man kein Haus mit bösen Absichten, um nicht die Götter zu erzürnen, um die Natur nicht gegen sich auf zu bringen. Man schwört die Wahrheit zu sagen, in seiner Gegenwart aus dem gleichen Grund. Mann und Frau versprechen sich in seiner Gegenwart ihre Liebe und gegenseitige Fürsorge, um nur einige Rituale zu nennen.
Die Hausgemeinschaft hält sich gegenseitig die Treue, denn sie wissen: nur gemeinsam können sie in der Natur bestehen. Genauso verhält es sich mit dem größeren Gemeinwesen, der Stadt. Die Stadt ist somit ein mythisches Wesen, nicht bloß irgendein Wohn- und Arbeitsort. Sie vermittelt Sicherheit und Geborgenheit, wie die Familie. Alle tragen dazu bei. Jeder fühlt sich der Gemeinschaft, in der er lebt, verpflichtet."

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