Donnerstag, 14. April 2022
Lon-Wa-Lha - 18
"Natürlich gab es das, Lea!" gebe ich ihr Recht und versuche einen Kompromiss: "Ich werde Kri-kri öfter als Botin einsetzen zwischen meinem Haus und der Karawan-Serail, wohin wir jetzt unterwegs sind. Außerdem werde ich den Lopon dort dafür einspannen, seine unverheirateten Stalljungen mit ihr in Kontakt treten zu lassen. Diese bewohnen Mehrbett-Zimmer in seinem Haus. Sollten sich da zarte Bande ergeben, sollen die Beiden heiraten und die Nächte in einer eigenen kleinen Wohnung verbringen, während sie tagsüber auf ihren angestammten Arbeitsplätzen arbeiten. Wäre dir das recht so?"

Sie umarmt mich spontan und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Dann nimmt sie ein wenig Abstand und fragt schuldbewusst:

"Habe ich jetzt etwas falsch gemacht? So in der Öffentlichkeit..."

Ich lächele und meine:
"Spontaneität sollte man nicht unterbinden!"

Inzwischen sind wir beim Karawan-Serail angekommen. Im Eingang des Hauses betätige ich ein Glockenspiel. Kurz darauf erscheint eine junge Frau in grauem knöchellangem Hemdkleid über einer Hose in der Tür. Mit gesenktem Blick und gefalteten Händen begrüßt sie uns:

"Sei gesegnet, Wangpoo -hoher Herr-, was führt dich her?"

"Ist dein Lopon -Herr- zuhause?"

"Ja, Wangpoo, tretet erst einmal ein."

Sie macht die Tür frei und wir betreten das Foyer. Sie schließt hinter uns die Eingangstür und geht vor. Dabei bietet sie uns an:

"Setzen Sie sich erst einmal an die Tafel. Ich werde dem Lopon Bescheid sagen."

Wir betreten die Halle und setzen uns auf zwei Hocker an die niedrige Tafel, während die Magd an eine seitliche Zimmertür klopft. Nachdem der Wangpoo sich gemeldet hat, öffnet sie die Tür, knickst und meldet ihm:

"Wangpoo Lobsang Gonpo und eine fremde Tsomo sind zu Gast, mein Lopon!"

Drinnen hört man einen Stuhl über den Boden kratzen. Die Magd quert nun die Halle und bereitet in der Küche den Tee.

Als der Wangpoo -Ratsherr- sein Büro verlässt, lächelt er uns an und sagt:

"Willkommen in meinem bescheidenen Heim, Wangpoo! Was kann ich für dich tun?"

"Wenn die nächste Yak-Karawane ins südliche Flachland startet, möge der leitende Lopon einen Brief nach Europa mitnehmen," erkläre ich ihm.

"Hm," meint der Wangpoo. "Morgen früh startet die Lieferung, die in zwei Tagen darauf auf LKWs umgeladen, weitergesandt wird. Es wird insgesamt vier Tage dauern, bis der Brief weitergeleitet werden kann."

"Das ist mir bewusst," gebe ich zurück. "Ich bitte jedoch darum, dass der Lopon den Brief persönlich per Luftpost aufgibt. Ihr seid mir für die korrekte Erledigung des Auftrages verantwortlich, Wangpoo!"

?Das bedeutet, dass die Karawane eine Woche in dem Ort gebunden ist, den die LKWs erreichen.?

Ich schüttele lächelnd den Kopf.

?Die Karawane ist nicht an die Anwesenheit des Lopon gebunden! Deine Männer sind erfahren genug, die Karawane ohne ihn zurückzubringen. Der Lopon kann beim nächsten Besuch dort wieder hinzustoßen!?

Der Wangpoo nickt und nippt an dem Tee, den seine Magd inzwischen serviert hat.

?Das kostet dann aber etwas extra,? meint er.

Ich nicke und bestätige ihm:
?Das ist mir bewusst, Wangpoo. Du wirst mir die Rechnung demnächst zukommen lassen.?

Nun nickt der Wangpoo und schnippt ein paar Tropfen Tee auf den Norbu in seiner Tafel. Auch ich lasse ein paar Tropfen darauf fallen. Somit ist die Vereinbarung besiegelt und ich übergebe ihm Leas Brief an ihre Eltern.

Danach fragt der Wangpoo:
?Möchte Wangpoo Lobsang Gonpo die Verladung sehen??

Ich nicke und meine: ?Ja, gerne!?

Wir erheben uns und durchqueren die Halle nach hinten. Neben der Treppe, hinauf zu den Wohnräumen, öffnet der Besitzer des Karawan-Serails eine Verbindungstür.

Sofort umfängt uns Betriebsamkeit. Links von uns stehen Schlitten, die von den Männern des Karawan-Serails beladen werden, mit Paketen, die sie aus Räumen rechter Hand holen. Weiter vorne stehen Yaks in Boxen. Lea schaut sich interessiert um, was den Wangpoo veranlasst, alles genau zu erklären.

Zum Abschied bedanke ich mich herzlich bei dem Besitzer des Karawan-Serails:

?Ich bedanke mich. Die Erdgöttin möge dieses Haus segnen.?

Wieder draußen fragt Leonie:
?Eins verstehe ich nicht: Bei dem Wort Karawane hatte ich bisher Kamele im Kopf. Natürlich kann man auch Rinder mit Lasten beladen und hintereinander laufen lassen. Aber ihr beladet Schlitten. Ich denke mal, dass die Yaks die Schlitten ziehen sollen. Aber warum habt ihr denn keine Wagen, die die Rinder ziehen??

?Das hatten wir bis vor etwa dreißig Jahren auch,? erzähle ich Lea. ?In Tibet war das kein Problem, aber hier im Gebirge kam es öfter zu Radbrüchen. Wir mussten Ersatzräder mitführen. Das ging auf Kosten der Waren, die transportiert werden sollten. Als mein Vater damals meine Mutter zu sich geholt hatte und einen eigenständigen Broterwerb brauchte, hat er mit dem örtlichen Schreiner den Bau von Versuchsschlitten besprochen. Auf diesen Gefährten braucht man keine Ersatzräder mitführen. Stopps zur Reparatur der Wagen fielen weg. Mit der Zeit haben sich die Schlitten für den Warentransport durchgesetzt und der Wandii, damals noch Wangpoo, ließ sich einen Prozentsatz des Umsatzes vom Schreiner auszahlen. Diese Schlitten werden auch sportlich von den jungen Männern benutzt. Wir haben Schlittenrennen!?

?Oh!? meint sie erstaunt.

*

Bei meinem ersten Gang durch Lobis Heimatort nehme ich eine Menge fremder Eindrücke auf. Ich bin froh, dass er langsam mit mir durch die Straßen schlendert. Die Menschen, die uns begegnen, vom Jugendlichen bis zum Greis, grüßen ihn freundlich und ehrerbietig und schauen mich neugierig an. Die Kleinen spielen fangen und lachen, wie überall auf der Welt.

Ich sehe allerdings kaum Paare in den Straßen. Männer gehen geschäftig irgendwo hin. Manches Mal stehen sie für Sekunden zusammen, um sich zu begrüßen. Frauen mit farbigen Umhängen stehen wesentlich länger zusammen, reden und lachen miteinander. Frauen in naturfarbenen Umhängen sind ebenso rastlos wie die Männer auf den Straßen. Viele tragen Lasten mit einem Schulterjoch. So gesehen, könnte man den Eindruck bekommen, dass die eigentlichen Herrscher ? die mit der meisten Freizeit ? die freien Frauen Lon-Wa-Lhas sind.

... comment