Dienstag, 15. März 2022
Lon-Wa-Lha - 02
Kurz darauf kommt die junge Frau wieder hinzu. Diesmal hat sie eine Teekanne und einen Stapel Teeschalen in den Händen. Die Frau des Wandii nimmt ihr die Teeschalen ab und verteilt sie an jeden Anwesenden. Nun füllt die junge Frau jede Teeschale aus der Teekanne. Mit Rücksicht auf uns spricht der Wandii auf Englisch:

"Welcome at home, Lobsang Tenzin Gonpo! I'm proud of you, my son!"

"Chime Thubten Pelden," lässt sich nun einer der Mönche vernehmen. "-Die unsterbliche Lehre der Mächtigen segnet dich mit Herrlichkeit-."

Wir wiederholen den Trinkspruch und verschütten etwas Tee über den Norbu -Stein-. Dann verabschieden sich die Mönche und der Wandii sagt zu uns:

"Sie müssen müde sein. Nima wird Sie zu unserer Herberge führen. Heute Abend wollen wir die Rückkehr meines Sohnes gebührend feiern. Dazu sind Sie herzlich eingeladen!"

Er klatscht in die Hände und die junge Frau, die uns Tee serviert hat, nähert sich wieder gemessenen Schrittes. Der Wandii redet sie in der Landessprache an und sie verbeugt sich. Danach wendet sie sich uns zu. Sie gibt uns lächelnd mit einer Handbewegung zu verstehen, ihr zu folgen. Wir schlüpfen wieder in unsere Straßenschuhe und verlassen den Bau aus grob behauenen Steinen. Draußen steuert sie zielsicher zwischen den Bauten auf ein längliches Bauwerk zu. Sie schlägt mit einem kleinen Hammer, den sie aus einer Nische neben der Tür zieht, gegen die massive Holztür.

Kurz darauf öffnet eine andere junge Frau die Tür. Wir treten ein und Nima erklärt der anderen jungen Frau den Auftrag des Wandii auf Nepalesisch. Danach verabschiedet sie sich und verlässt die Herberge. Die junge Frau aus der Herberge geht zu einer Zimmertür und klopft. Ein Mann tritt aus dem Nebenzimmer und überblickt die Szene. Nachdem die junge Frau sich verneigt hat, erklärt sie ihm die Situation. Der Mann nickt und fragt auf Englisch:

"Would you like to have breakfast before we show you your rooms?"

"Surely," bestätigt Curadh Eamon lächelnd.

Wir setzen uns auf Hocker an einen der niedrigen Tische und sind neugierig auf das, was die Leute hier zum Frühstück zu sich nehmen. Später führt uns die Wench, die uns bedient, eine Etage höher und öffnet mir mit Alainn und den beiden Piloten unseres Duaithníocht -Tarn- drei Gästezimmer. Ich frage die junge Frau:

"Ich hörte in Bezug auf Sie die Bezeichnung 'Kamlahari'. Was bedeutet das Wort?"

"Wir sind Frauen einer armen Volksgruppe in Nordindien," erklärt sie. "Wenn unsere Eltern die Familie durch ihre Arbeit nicht mehr ernähren können, verkaufen sie ihre Töchter an reiche Städter, in deren Haushalten wir dann arbeiten müssen, gegen Nahrung und eine Schlafstelle. Manchmal kommt es auch vor, dass wir an einfachen Maschinen angelernt werden und dann zu Hunderten in großen Hallen zum Beispiel Nähen oder Knüpfen müssen. Die Hallen sind manchmal baufällig und stürzen ein. Viele Kamlahari sterben dabei, was deren Besitzer nicht weiter berührt. Eine neue Halle ist schnell erbaut und neue Kamlahari gekauft..."

"Oh," entfährt es Alainn. Sie macht ein erschrecktes Gesicht. Auch ich bin unangenehm berührt. Die junge Frau berichtet weiter:

"Hier kommt der ehrenwerte Wandii ins Spiel, Lopon -Herr-," sie neigt den Kopf und macht eine kurze Redepause. "Er hat eine Organisation zum Schutz der Kamlahari ins Leben gerufen: Ehemalige Kamlahari bekommen Geld zum Lebensunterhalt. Dafür sollen sie in den Städten umhergehen und Kamlahari, die sie unterwegs treffen, davon überzeugen sich von ihren Herren loszusagen. Den Kamlahari wird versprochen, dass sie dann wählen können, ob sie zu ihren Familien zurückkehren oder eine gründliche Schulausbildung im Kloster nahe Lon-Wa-Lhas erhalten. Nach dieser Ausbildung sind sie in der Lage selbständig für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Oder sie gehen nach einigen weiterführenden Semestern in die Haushalte der Tibeter, die in Lon-Wa-Lha im Himalaya siedeln."

"Ah," mache ich und stelle fest: "Du hast also diesen dritten Weg gewählt?"

"Ja, mir erschien Lon-Wa-Lha wie das Paradies auf Erden. Ich habe in den zehn Jahren, die ich nun von meinen Eltern getrennt bin viel Schlimmes erlebt! Hier erhalte ich neben einem Zimmer, angemessene Kleidung und gutem Essen auch regelmäßig monatlich eine kleine Summe, mit der ich als wohlerzogene Tochter meine Eltern und Geschwister unterstützen kann."

"Das geschieht auf Initiative des Wandii hier?" frage ich noch einmal nach.

Sie nickt und meint: "Der Wandii ist sehr freundlich zu uns, Lopon!"

"Okay," meine ich. "Da stimme ich Ihnen vollkommen zu! Aber nun wollen wir uns niederlegen, da wir letzte Nacht auf der Reise nicht schlafen konnten. Darf ich vorher noch ihren Namen erfahren?"

"Pelmo -Ruhmreiche-, mein Lopon -Herr-."

Die Kamlahari zieht sich nach einer Verbeugung diskret zurück.

*

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