Sonntag, 23. Juni 2024
Eine neue Hoffnung -14
"Das muss aber eine entbehrungsreiche Reise gewesen sein," meint sie.

"Das macht nichts. Das bin ich gewohnt," antworte ich und lächele sie an.

"Ich komme gerade von der Arbeit und möchte duschen," erklärt sie mir. "Ich hoffe, es macht dir nichts aus."

Ich schüttele mit beruhigender Miene den Kopf und entgegne ihr:

"Fühl' dich wie zuhause, Leni. Meine Anwesenheit soll nicht störend auf dich wirken!"

Sie lächelt mir zu und erhebt sich. Später höre ich Wasser laufen und als sie den Livingroom wieder betritt, hat sie ein enges Kleid mit Spaghetti-Trägern in lichtgelb an. Sehr feminin.

*

Endlich ist der Feierabend da. Der heutige Arbeitstag hat sich gezogen wie Kaugummi. Wie gut, dass ich mich heute Abend mit Freunden im Club verabredet habe. Dabei kann ich endlich abschalten. Ich setze mich in meinen Wagen, kurve vom Firmenparkplatz herunter und fädele mich in den Verkehr ein. Die CD im Autoradio spielt meine Lieblingsmusik.

Zwanzig Minuten später erreiche ich das Mehrfamilienhaus, in dem mein Zwei-Zimmer-Appartement liegt. Ich betätige das Rolltor über Funk und parke in der ebenerdigen Gemeinschaftsgarage. Danach verlasse ich die Garage wieder und will zum Hauseingang gehen. Auf dem Bürgersteig ist wenig los. Nur ein Passant kommt mir entgegen.

Irgendwie kommt mir der Mann bekannt vor. Er trägt eine Jeans und ein safrangelbes T-Shirt. Darüber hat er eine sandfarbene Jacke an. Normales Outfit also. Was mich jedoch fesselt, ist das Gesicht. Der Mann hat eine braune Hautfarbe, schwarzes Haar und scheint etwas jünger als ich zu sein. Seine Gesichtszüge erinnern mich an etwas. Nur an was?

Als wir in etwa auf gleicher Höhe sind, grüßt er mich: "Hello!"

Der Akzent, mit dem er das englische Wort ausspricht, lässt mich genauer hinschauen. Ich kenne diesen jungen Mann! Nur woher genau?

Plötzlich fällt es mir ein. Aber kann das sein? Ich vergewissere mich und frage ihn:

"Ashok? Is it you?"

Der junge Mann lächelt, faltet die Hände und führt die Fingerspitzen an sein Kinn. Das ist er! Das kann nur er sein!

"Ja, Leni. Ich bin es! Und ich kann jetzt Deutsch mit dir reden," antwortet er mir auf Deutsch.

"Meine Güte, bist du groß geworden! Erzähle! Hast du Zeit, kurz mit zu mir zu kommen?" stammele ich.

Er nickt mir zu und bestätigt es mir. Ich wende mich also zur Haustür, schließe auf und lasse ihn an mir vorbei. Während wir die Treppe in den zweiten Stock emporsteigen, frage ich ihn neugierig:

"Wie bist du denn hierhergekommen?"

"Das war eine Reise von ungefähr zwei Jahren. Unterbrochen von Arbeit und Lernen."

"Oh!" mache ich.

Welche Entbehrungen muss er wohl auf sich genommen haben! In meiner Wohnung biete ich ihm im Wohnzimmer Platz an. Ich bin peinlich berührt, als er sich im Schneidersitz auf den Teppich setzt und meine:

"Du darfst dich ruhig in den Sessel setzen."

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