Dienstag, 10. Mai 2022
Lon-Wa-Lha - 31
Ich sehe mein Spiegelbild an. Wie schamlos, wie wertlos, wie schrecklich sie ist, diese Frau im Spiegel, diese sich windende, erstaunliche, unkontrollierbar sinnliche kleine Hure! Sie tanzt weiter. Sie ist wirklich Wertelos, aber in ihrer Schönheit und Weiblichkeit und in ihrem Tanz besitzt sie unglaubliche Reichtümer und Macht.

Schließlich breche ich nackt auf dem Teppich zusammen. Ich fühle seine groben Fasern an meinen Schenkeln. Ich schlinge meine Arme um mich und ziehe meine Beine an. Angstgefühle steigen in mir auf. Ich verstehe nicht, was ich getan und gesehen habe. Die Frau im Spiegel ist gegangen. Wir sind jetzt eins.
Ich zittere. Später glaube ich, dass ich dort über eine Stunde nackt auf dem Teppich liegen geblieben bin. Ich lausche auf die Geräusche, die von draußen hereindringen, vor allem den Verkehrslärm.

*

Als ich nach diesem Coming-Out mit meiner Freundin Lea wieder Kontakt bekomme, frage ich sie:

"Lea, du weißt doch von meinem Pech mit den Männern hier... Dürfte ich vielleicht bei euch in Lon-Wa-Lha - sagen wir mal - ein Praktikum in ethnischem Modedesign absolvieren? Vielleicht lerne ich ja bei euch den Mister Right für mich kennen..."

"Ach, Liebes," antwortet Lea mir. "Natürlich kann ich einen der Schneider hier in Lon-Wa-Lha fragen, ob er in seiner Werkstatt noch eine Näherin braucht. Du könntest dich dann von unten hocharbeiten, was sicherlich schnell gehen wird bei deinen Kenntnissen. Auch wird auf Auftrag gearbeitet, nicht auf Vorrat!
Du wärst dann Mitglied seines Haushaltes, stehst unter seinem Schutz. Du musst dich auf ihn einstellen, wie auf jeden anderen Arbeitgeber, aber ob du in seiner Gunst aufsteigst, hängt von vielen Faktoren ab..."

"Wieviel Schneider arbeiten denn in Lon-Wa-Lha?"

"Ein älterer Mann und drei seiner Lehrjungen aus den letzten zwanzig Jahren, die eigene Betriebe eröffnet haben. Der älteste davon ist Mitte Dreißig, der mittlere ist etwa so alt wie du und der jüngere ist Anfang Zwanzig. Der von Mitte Dreißig ist voll etabliert. Die beiden anderen könnten von deiner Erfahrung profitieren, denke ich. Aber bedenke, dass du allenfalls bitten darfst einen Vorschlag machen zu dürfen, dich ansonsten zurückhalten musst!"

"Ich weiß, du hast mir ja schon viel von den Gebräuchen bei euch erzählt, Liebes."

"Dann soll ich für dich bei dem in deinem Alter vorsprechen?"

"Du bist ein Schatz, wenn du das für mich tust!"

*

Vier Wochen sind seit dem Gespräch mit Lea vergangen. Ich habe meinen Arbeitsplatz und meine Wohnung gekündigt. Möbel und Hausrat sind von einer karitativen Organisation abgeholt worden. Für die letzten zwei Wochen habe ich ein Hotelzimmer genommen. Nun sitze ich in einem Flugzeug, das mich über Dubai nach Neu-Delhi bringen soll. Innerlich zittere ich vor erregter Erwartung. Wangpoo Dondrup Yügyel -erfolgreicher Sieger- heißt mein neuer Chef, dessen 'Magd' ich bald sein werde.

In Neu-Delhi erkundige ich mich nach einer Zugverbindung in den Norden. In der nordindischen Stadt angekommen, lasse ich mich von einem Taxi zu dem Händler fahren, der tibetische Waren kauft und verkauft. Ein LKW mit Waren aus Lon-Wa-Lha soll übermorgen eintreffen, sagt er mir. Also suche ich ein Hotel, wo ich zwei Übernachtungen buche.

Als ich den Händler wieder besuche, steht dort ein LKW, den er gerade ablädt. Er bittet mich ins Büro und bietet mir Tee für die Wartezeit an. Durch das Panoramafenster kann ich beobachten, wie die Männer den LKW abladen und mit anderen Waren wieder beladen. Etwa zwei Stunden später betritt ein Mann das Büro. Er schaut sich kurz um und fragt mich dann:

"You are Miss Beven O?Connor, are you?"

Der Mann hat ein ledernes Wams an, auf dem eine schräglinks geneigte zweisprossige Leiter aufgestickt ist. Lea hat mir erklärt, dass dies das Zeichen des Wandii von Lon-Wa-Lha ist. Er stellt sich als Mitglied der Wache von Lon-Wa-Lha vor, der die Reise mit dem LKW hierher mitgemacht hat, um mich sicher zurück zu geleiten.

Während wir nun auf den Start des LKWs warten, unterhalten wir uns auf Englisch miteinander. So erfahre ich, dass der Mann Lopon Chungne Dargye heißt und der Chef der Wache in Lon-Wa-Lha ist. Neugierig geworden, frage ich ihn, was die Wache für eine Aufgabe hat. Er antwortet lächelnd, dass er noch drei Mitarbeiter hat, so dass man rund um die Uhr Wachgänge im Ort unternehmen kann. Dabei schaut der jeweilige Wachmann, ob alles in Ordnung ist, oder etwas Ungewöhnliches geschieht. Auch können die Bürger von Lon-Wa-Lha von sich aus, den Wachmann auf etwas Ungewöhnliches aufmerksam machen. Dann entscheidet dieser, ob und wieviel Bürger alarmiert werden müssen, um ein Problem zu lösen. Die Wache ist also so etwas wie eine Bürgerwehr, da es im Himalaya weder Militär, noch Polizei oder Feuerwehr gibt.

Schließlich ist der LKW abfahrbereit und der Lopon - ich weiß inzwischen, dass das Wort Herr bedeutet, wie das englische Mister oder Master - hilft mir, meine Koffer ins Führerhaus zu hieven.

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