Samstag, 30. April 2022
Lon-Wa-Lha - 26
"Der Händler hat die beiden mit der Peitsche getrennt und - ihr würdet sagen - der Mann hat einen Eintrag in seiner Personalakte. Der Vorfall hat also unter ungünstigen Umständen Konsequenzen in dessen Zukunft."

"Welche Konsequenz kann das sein?"

"Bei Wiederholung eines solchen Vorfalles ist er nicht mehr Mitglied der Hausgemeinschaft des Händlers. Der Händler kann den Fall auch vor den Rat seiner Heimatstadt bringen und verlangen, dass er als Geächteter gilt."

"Aber warum denn?"

"Wir sind Teil der uns umgebenden Natur. Wir müssen uns gegenseitig vor den Naturgewalten schützen. Ein Schilfrohr kann der Sturm knicken. Ein Bündel Schilfrohre nicht. Das gilt umfassend: Andere Teile der Natur, Wesen, die unseres Schutzes bedürfen, seien es nun Pflanzen, Tiere, andere Menschen, werden von uns gegen alles beschützt, was ihnen schaden will."

"Also, ich finde das vorbildlich," meint Patrick versöhnlich.

"Der Hausherr fühlt sich auch für die Familie verantwortlich, aus der die Magd stammt, hast du eben sinngemäß gesagt," hole ich nochmal einen Punkt hervor, der meiner Meinung nach eben nicht ausreichend beleuchtet worden ist.

"Am authentischsten kann dir das Kri-kri erklären, Mama. Sie ist gewissermaßen eine direkt betroffene," antworte ich und nicke meiner Magd zu.

"Soll ich den Herrschaften meinen Werdegang darlegen?" fragt sie mich.

Ich nicke ihr noch einmal aufmunternd zu und Kri-kri beginnt:

"Meine Eltern gehören der Volksgruppe der Tharu in Nordindien an. Wir sind arme Bauern, weil die Böden sehr oft zu trocken sind. Wenn die Eltern feststellen, dass sie nicht alle Kinder ernähren können, bringen sie die Töchter in eine nahe Stadt, wo sie in den Haushalten reicher Städter oder in deren Fabriken arbeiten müssen. Manchmal behandeln uns die Herren fair, aber zumeist müssen wir unbezahlt arbeiten und an unserem Arbeitsplatz schlafen. Eigene Zimmer haben wir nicht. Fabrikarbeiterinnen sterben oft, weil die marode Halle zusammenbricht. Das ist für die Herren kein Problem: Schnell ist eine neue Halle in Leichtbauweise errichtet und neue Arbeiterinnen angeworben."

Kri-kri macht eine Pause und schaut uns an. Patrick hat eine steile Falte auf der Stirn und mir stockt der Atem. Nach einem Augenblick fährt Kri-kri fort:

"Wandii Tashi Gonpo ist ein ehrenwerter Mann! Er hat vor vielen Jahren, nachdem Lon-Wa-Lha in diesem Gebirgstal neu aufgebaut worden ist, seine Fühler nach Süden ausgestreckt. Er hat dabei von unserem Schicksal erfahren und eine Organisation ins Leben gerufen, um die Kamlahari -uns- von der Straße zu holen!
Es ist nämlich immer wieder geschehen, dass einzelne Kamlahari ihren Herren davongelaufen sind. Nun mussten diese Frauen aber auf der Straße leben. In ihr Dorf zurück können sie nicht, zu ihrem oft gewalttätigen Herrn zurück wollen sie nicht. In der Situation bleibt nur Betteln und Prostitution.
Der Wandii hat einen Gebäudekomplex in der Stadt gekauft - ich bin mir sicher, in anderen Städten ebenso - und hat einzelne Kamlahari angesprochen. Er hat ihnen erst einmal eine Schlafstelle und Nahrung geboten, so dass sie nicht mehr betteln und sich prostituieren müssen. Dann hat er sie ausgesandt, damit sie weitere Kamlahari von der Straße holen.
Nun hat er ihnen eine Beschäftigungsmöglichkeit verschafft, mit der sie genug Geld verdienen können, um sich ihre Nahrung und Kleidung selbst kaufen können. Dann hat er immer wieder Gruppen von uns hierher nach Lon-Wa-Lha geholt, um in der Klosterschule Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Danach durften diese Frauen einen Beruf erlernen, mit dem sie ihren Unterhalt selbst bestreiten können, bis hin zu eigenen Unterkünften. Ich bin sicher, dass viele von uns, die diesen Weg gewählt haben, von ihrem kleinen Verdienst ihre Familien unterstützen. So gehört es sich als gehorsame Tochter!
Andere Kamlahari wollten nicht wieder nach Nord-Indien zurück. Sie fanden in Lon-Wa-Lha einen Hausherrn, der sich kümmert und für sie sorgt. Dem dienen diese Frauen mit Freude! Immer wieder fällt dabei auch etwas ab, womit sie ihre Familien unterstützen können. So ist es auch mir ergangen..."

"Und du hast wirklich nicht den Eindruck, ausgenutzt zu werden?" fragt Patrick nach einer Weile.

Kri-Kri schüttelt vehement den Kopf. Sie antwortet:
"Früher, bei meinem Herrn in der Stadt war ich eine von Vielen. Ich musste tun, was die Haushälterin mir auftrug. Da ist es auch vorgekommen, dass einer der jungen Herren bei uns seine erwachende Männlichkeit ausprobierte.
Aber hier im Haushalt des ehrenwerten Wandii und danach im Haushalt seines verehrten Sohnes und seiner jungen Frau... Ich kann mir kein besseres Leben wünschen! Gleichzeitig kann ich auch etwas für meine lieben Eltern tun."

*

Wir bleiben noch ein paar Tage in Lon-Wa-Lha. Anfangs bleiben wir in der Nähe der Herberge, um uns nicht zu verlaufen. Bald sind wir uns jedoch so ortssicher, dass wir uns auch auf die angrenzenden Weiden und Felder trauen. Dann erzählt mir Maegan von ihrer Sehnsucht nach Irland. Lobsang und auch der Wandii zeigen Verständnis. Lobsang erklärt uns noch, was wir zuhause einrichten müssen, um jederzeit mit ihnen in Kontakt treten zu müssen.

Schließlich bringt uns ein Trikopter nach Katmandu. Lobsang und Lea sind mitgeflogen, um uns am Flughafen zu verabschieden. Ein paar Stunden später, die wir gemeinsam im Flughafen-Restaurant verbracht haben, startet unser Flugzeug zurück nach Irland. Maegan ist still geworden. Ich lege meinen Arm um ihre Schultern und verspreche ihr:

"Wir kommen immer wieder mal zurück zu Lea und Lobsang. Versprochen!"

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