Montag, 4. April 2022
Lon-Wa-Lha - 12
Am späten Abend startet mein Flugzeug. Es wird mit einer Zwischenlandung in den Arabischen Emiraten zwölf Stunden brauchen und am frühen Vormittag in Katmandu landen. Den größten Teil der Flugreise verschlafe ich.

Als ich am Morgen aus dem Kabinenfenster schaue, bietet sich mir ein grandioses Bild. Unter mir eine Wolkendecke, die sich manchmal öffnet und eine Gebirgslandschaft freigibt. Die Wolkendecke wird hier und da von Gipfeln hoher Berge in grau und weiß durchstoßen.

Nachdem das Flugzeug aufgesetzt hat, die Einreiseformalitäten erledigt sind und ich meinen Koffer habe, sehe ich Lobi in landestypischer Kleidung im Ankunftsbereich auf mich warten. Ich gehe auf ihn zu. Als auch er mich entdeckt hat, kommt er mir mit schnellen Schritten entgegen. Wir umarmen und küssen uns.

Dann meint er:
"Komm, wir kaufen etwas zu essen, danach lassen wir uns vor die Stadt fahren."

Also kauft Lobi für mich und sich, sowie zwei Männer in weinroten Roben, die ihn begleiten, etwas zu essen. Anschließend fahren wir, etwas beengt, in einem Dreirad-Taxi vor die Stadt. Unterwegs steht er mit noch jemand über Funk in Verbindung. Nachdem wir ausgestiegen sind und Lobi den Taxifahrer bezahlt hat, höre ich einen Hubschrauber näherkommen.

Der Hubschrauber landet neben der Straße. Es ist ein schnittiges Gerät ohne einen großen Rotor über der Passagierkabine. Sie wird geöffnet und wir steigen ein. Dann hebt das Fluggerät senkrecht ab, wie es gelandet ist, und geht bald in den Geradeausflug über. Lobsang erklärt mir:

"Dies ist ein Trikopter aus einer indischen Werft. Er fliegt mit drei Mantelschrauben, die verstellbar aufgehängt sind. Ungefähr so wie die Drohnen, nur größer."

Nach etwa einer Stunde erreichen wir ein weites Gebirgstal. An einer Seite befindet sich ein überhängender Felsen und ein weiß getünchtes mehrstöckiges Haus, dessen oberstes Fensterband braun abgesetzt ist. Unter dem überhängenden Felsen parkt der Pilot sein Fluggerät und wir steigen aus. Die Mönche gehen auf das weiße Haus zu, nachdem sie sich freundlich lächelnd verabschiedet haben. Der Pilot übergibt Lobsang meinen Koffer und verschließt alles gut. Danach gehen wir zu dritt auf eine Ansammlung von Bauten zu, die mich an Cuiraraill erinnern. Während dort der Baustoff dunkelgrau gewesen ist, sind diese 'Bienenkörbe' in braun gehalten.

In diesem Ort, der dann wohl Lon-Wa-Lha sein muss, betritt Lobsang ein Haus, nachdem er sich vom Piloten mit ein paar freundlichen Worten getrennt hat.

Unterwegs habe ich Lobi gefragt, ob er mich bald auch seinen Eltern vorstellen will. Er hat mich lächelnd angesehen und gesagt:

"Ich habe dir ja schon erzählt, dass die raue Hochgebirgslandschaft den ganzen Mann fordert, mein Schatz. Diese Landschaft hat daher ein patriarchalisches Gesellschaftssystem hervorgebracht. Also wirst du im Alltag meist Männer sehen. Männer entscheiden alles, Männer arbeiten für den Lebensunterhalt. Frauen findest du bei haushaltsnahen Tätigkeiten.
Selbst der ärmste Mann ist in seinem Haus, in der Nähe seines Norbu, der Alleinherrscher, der Mittler zwischen den Göttern und den Menschen. Dem zu Folge gehorcht die Frau respektvoll jeder Anordnung ihres Mannes, jede Magd den Anordnungen ihres Lopon - ihres Herrn und Meisters -.
Im Hause meines Vaters leben einige Frauen. Als Wandii unserer Stadt braucht er einen großen Haushalt. Er hat oft Gäste. Er muss repräsentieren. Meine Mutter ist eine Europäerin, eine Deutsche. Mein Vater hat auch sie während seines Studiums kennen und lieben gelernt, genau wie ich dich nun. Meine Eltern haben mir seit der frühesten Kindheit Achtung und Respekt vor selbst der geringsten Magd beigebracht. Wir alle sind Teil der uns umgebenden göttlichen Natur. Die Mutter ist eine wichtige Respektperson, während der Vater im Leben eines Kindes die entscheidende Person ist. Von ihm lernt es die Tradition kennen, die Sitten und Gebräuche. Er formt den Charakter."

Mit der langen Rede nun, fühle ich mich eigentlich nicht wirklich respektiert. Er hat eine wichtige Information gegeben, sich dabei aber um die Beantwortung meiner Frage gedrückt. Also hake ich nach:

"Ich liebe dich, Lobsang! Ich will mein Leben mit dir teilen. Du zeigst mir alles, was ich wissen muss über eure Sitten und Gebräuche. Ich will dir gerne gehorchen, mein Engel! Aber dazu musst du mich doch sicher erst einmal deinen Eltern vorstellen!"

Er nickt lächelnd und sagt:
"Vorsicht, Schatz, dein Wille könnte wahr werden. Ich habe inzwischen einen eigenen Haushalt. Ein Ratsmitglied braucht so etwas! Dazu gehört auch, dass mir mein Vater eine Magd zur Verfügung gestellt hat, zum Kochen, Putzen und Waschen. Die Nächte aber habe ich einsam verbracht in Sehnsucht nach dir, Liebling! - Außerdem sind wir heute Abend bei meinen ehrenwerten Eltern zum Essen eingeladen!"

Ich rücke bei seinen Worten unwillkürlich etwas von ihm ab und schaue ihn zweifelnd an.

"Eine Magd ist eine Hausangestellte, mehr nicht!" setzt er deshalb nach.

"Aber eine Hausangestellte ist zuerst einmal eine Frau!" stelle ich fest.

Sicher habe ich jetzt etwas vorwurfsvoll geklungen. Lobsang antwortet:

"Das ist richtig! In kleineren Haushalten ohne Repräsentationspflichten, ist Hausfrau und Magd auch ein und dieselbe Person. Erkundige dich bei meiner ehrenwerten Mutter. Ich bin sicher, auch sie hatte zu Anfang mit den gleichen Ressentiments zu kämpfen. Inzwischen dirigiert sie die Mägde mit einer großen Selbstverständlichkeit, damit der große Haushalt funktioniert.
Mein Vater unterhält auch eine Wachtruppe. Das sind Männer, die im Katastrophenfall aktiv werden. Im Alltag schlichten sie Streitigkeiten. Diese Männer wohnen im Haushalt meines Vaters und zu ihnen gehen die Mägde in der Nacht."

"Diese Mägde kümmern sich um die sexuellen Bedürfnisse der Wachleute?" muss ich nun fragen.

Lobsang lächelt. Er erklärt:
"Die Mägde sind keine Prostituierte! Würde mein Vater bestimmen, welche Magd mit welchem Wachmann die Nacht verbringt, wäre das respektlos vor der Magd als Frau. Nein, die Magd und der jeweilige Wachmann sind miteinander befreundet oder haben geheiratet, die Beiden lieben sich also genauso, wie wir uns lieben!"

"Ah," mache ich und nehme mir vor, genau hinzuschauen.

Ich werde versuchen, die fremde Kultur mit der Zeit anzunehmen. Sechs Wochen Probezeit habe ich ja nun.

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