Sonntag, 27. März 2022
Lon-Wa-Lha - 08
"Chime Shita Jin Lobsang Lobsang Tenzin Gonpo -Unsterbliche Erdgöttin, schenke Lobsang Tenzin Gonpo rechte Einsicht-."

Die Gäste wiederholen die Zeremonie und skandieren dann dreimal den Namen unserer Stadt. Unsere Heimatstadt ist uns mehr als eine Ansammlung von Häusern, mehr als Wohnung und Arbeits-, Lebensraum. Unsere Stadt ist wie ein mystisches Gebilde, eine Manifestation der unsterblichen Götter. Sie bedeutet die Summe der Tradition, das Erbe unserer Ahnen. Sie hat einen Charakter, der sich in unseren Sitten und Gebräuchen manifestiert und die Zeiten überdauert. Es ist uns eine Ehre, für ihre Erhaltung zu kämpfen. Sie ist uns nur geborgt, um sorgsam mit ihr umzugehen und sie an die nächste Generation weiter zu geben.

"Tritt vor, Lobsang Tenzin Gonpo!" sagt mein Vater nun.

Ich mache ein paar Schritte in den Raum und stehe jetzt vor ihm. Die Blicke aller Anwesenden spüre ich auf mir ruhen.

"Wirst du immer zum Wohle der Gemeinschaft handeln, dich respektvoll und ehrenhaft, sowie verantwortungsbewusst verhalten?" fragt mein Vater.

"Ja, das werde ich!" antworte ich mit fester Stimme.

"Welcher ist dein Norbu?" fragt mein Vater weiter.

"Mein Norbu ist der von Lon-Wa-Lha!" antworte ich laut und vernehmlich.

"Dann," fährt mein Vater fort, "erkläre ich dich hiermit in meiner Eigenschaft als Wandii von Lon-Wa-Lha in Gegenwart der versammelten Wangpoo -Ratsherren- zu meinem Stellvertreter, Wangpoo Lobsang Tenzin Gonpo."

Mein Vater lächelt. Ein Gefühl des Stolzes steigt in mir auf, als ich die Zustimmung des Rates in Form des aufbrandenden Beifalls vernehme.

Anschließend reichen die anwesenden Mägde des Herbergswirtes Speisen und Getränke. Wie lange habe ich die heimatliche Küche vermisst! Es gibt Fladenbrot mit verschiedenen aromatischen Soßen und Yak-Fleisch. Dazwischen verschiedene Gänge mit Wildbret und Reis. Die Mägde schenken auf Wunsch vergorene Yak-Milch, vergorenen Beerensaft und Tee aus.

Auf einer kleinen Bühne wird noch einmal ein traditioneller Maskentanz aufgeführt, der die Naturgötter der Ahnen gütig stimmen soll. Dann treten drei Mägde in einem Hauch von nichts auf. Mit Glöckchen an Hand- und Fußgelenken und rhythmisch stampfenden Bewegungen tanzen sie bei sinnlichen Windungen ihres Rumpfes ihren Liebestanz. Die Männer, inzwischen schon berauscht, klatschen den Takt im Rhythmus mit.

In der Versammlungshalle liegt der Norbu der Stadt an zentraler Stelle als Identifikationspunkt auf einem Sockel. Ebenso besitzt jedes Haus einen eigenen Norbu, der die Mitglieder des Haushalts einander verpflichtet und die Verbindung zu den Göttern unserer Ahnen symbolisiert. Der Verlust eines Norbu bedeutet großes Unglück. Norbu bedeutet übersetzt "wertvoller Stein, Juwel, der dem Besitzer Glück bringt".

In der westlichen Welt habe ich eine völlig andere Denkweise kennen, aber nicht schätzen gelernt. Dort ist die Stadt bloßer Lebens- und Arbeitsplatz, der benutzt - ja, man muss sagen: verbraucht wird. Als ob nach den jetzt lebenden Bewohnern keiner mehr kommt, dem die Stadt ebenfalls Lebensraum bieten muss. Ein übergeordneter Ehrbegriff ist dort unbekannt, so dass die westlichen Naturschützer einen schweren Stand haben, gegen Profitgier und Ausbeutungsinteressen anzugehen. Diese Betrachtungen schwirren im Laufe des Abends durch meine Gedanken.

*

Am nächsten Tag breche ich zu Fuß auf. Ich habe mir ein Gestell auf den Rücken geschnallt, auf dem meine Ausrüstung festgebunden ist. Dann entferne ich mich von meiner Stadt und wandere in das ausgedehnte Gebirgstal hinein, an dessen Rand Lon-Wa-Lha liegt. Als ich nach einigen Stunden linker Hand die Reste einer Gerölllawine erkenne, suche ich dort nach einem besonderen Stein. Hin und wieder huscht ein Nagetier in einiger Entfernung vorbei.

Am Abend mache ich mir Feuer und breite meine Schlaf-Felle aus. In der Nacht sehe ich meine Lea im Traum. Infolge habe ich einen unruhigen Schlaf bis die Morgendämmerung anbricht. Von Sehnsucht erfüllt, packe ich meine Sachen zusammen und wandere weiter. Plötzlich sehe ich vor mir etwas liegen. Ich besehe mir mein Fundstück und entscheide, dass dies mein Norbu werden soll. In einem dreitägigen Marsch komme ich wieder in Lon-Wa-Lha an, freudig von meinem Vater begrüßt.

Dieser hat vor Monaten schon die Vorbereitungen zum Bau meines Hauses getroffen gehabt. Ich überlege mir, was ich tun könnte, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Unsere irischen Gäste fallen mir dabei ein. Ich könnte also ein Handelshaus gründen, das sich mit überregionalem Handel beschäftigt, denke ich. Darüber spreche ich mit dem Wandii und dem Méara von Cuiraraill. Ich frage anschließend den Wangpoo, dem das Karawan-Serail gehört. Dort darf ich im Bedarfsfall Lagerplatz mieten.

Nach Fertigstellung meines Hauses ziehe ich aus meinem Zimmer im Haus meines Vaters in mein eigenes Haus um. Ich beuge mich über die Tafel in der Halle und lege den Stein in die dafür vorgesehene Vertiefung. In diesem Moment öffnet sich die Tür zum Küchen- und Hausarbeitstrakt und eine junge Frau tritt heran. Sie verbeugt sich und sagt:

"Ich bin deine Magd, mein Lopon."

Das hat wohl mein Vater arrangiert. Ich wende mich ihr zu und frage sie:

"Wie heißt du?"

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